Die Klamms waren schon aufgestanden, denn im Erdgeschoß war das Klappern von Geschirr zu hören. Und Onkel Pauls laute Stimme.
Etwas Heißes überflutete Jonathan.
Angst.
Die Tür wurde aufgerissen und er zuckte zusammen. „Komm, los, zieh dich an! Es gibt Frühstück! Wenn du zu spät kommst, kriegst du nichts mehr!“
Sebastian stand auf der Türschwelle, musterte ihn wieder mit diesem durchdringenden, neugierigen Blick. Es war der gleiche Blick, mit dem er gestern Nacht durch den Türspalt in das Schlafzimmer seiner Eltern gesehen hatte.
Jonathan beeilte sich, seine Kleider anzuziehen. Es war ihm peinlich, dass Sebastian ihm dabei zusah, aber der machte keine Anstalten, ihn alleine zu lassen.
„Du hast ja Jeanshosen“, meinte der ältere Junge bewundernd.
Jonathan hielt den Atem an, als Sebastian mit dem Finger über seinen Oberschenkel fuhr. „Ich krieg keine. Die sind zu teuer, die können wir uns nicht leisten. Mama näht meine Hosen. Schade, dass du kleiner bist als ich, sonst könntest du sie mir borgen.“
Jonathan schüttelte sich innerlich. Was für eine merkwürdige Vorstellung! Er würde doch nicht seine Hosen an jemanden verleihen!
Mit klopfendem Herzen folgte Jonathan seinem Cousin die Treppe hinunter in die Küche.
Onkel Paul saß am Tisch. Jonathan starrte ihn überrascht an. Zuerst hatte er geglaubt, er müsse seiner Mutter ähnlich sehen, da er ja ihr Bruder war. Und nach den nächtlichen Geräuschen hatte er sich Onkel Paul als großen, bösen Riesen vorgestellt.
Aber Onkel Paul war nicht so besonders groß und eher hager. Mit seinen dunklen Haaren und den abstehenden Ohren sah er wie ein erwachsener Sebastian aus.
Als Jonathan hinter seinem Cousin die Küche betrat, hob Onkel Paul den Kopf und musterte ihn mit hartem Blick, ohne ein Wort zu sagen.
Tante Mina ging mit steifen Bewegungen zwischen Anrichte und Herd hin und her, stellte Teller auf den Tisch.
„Setzt euch“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Du dahin.“ Ihr dünner Finger wies auf einen Stuhl. Jonathan setzte sich folgsam.
„Hol dir einen Teller“, knurrte Paul.
Mina zuckte zusammen und stöhnte leise. Jonathan dachte daran, was er letzte Nacht gehört hatte.
Onkel Paul hatte Tante Mina wehgetan.
Jetzt fasste der Mann Minas Handgelenk. „Ich meinte nicht dich, dumme Kuh. Der verwöhnte Bengel kann sich sein Frühstück ruhig selber machen.“
Jonathan schluckte. Er warf Sebastian einen hilflosen Blick zu.
„Ich zeig dir, wo du alles findest“, flüsterte sein Cousin.
Jonathan lächelte ihn dankbar an.
Ohne Appetit würgte er unter den wachsamen Blicken der Familie Klamm schließlich ein Häuflein klebrigen Haferbrei hinunter.
„Wirst dich an eine weniger feine Kost gewöhnen müssen. Wir haben nicht so viel Geld wie die Stadtpinkel“, war der abschließende Kommentar von Onkel Paul.
Jonathan starrte ihn verständnislos an.
„Glotz nicht so blöd. Du weißt bestimmt, worum es geht. Deine Mutter war sich ja immer zu fein für uns. Und jetzt hebt eure faulen Ärsche! Ihr könnt euch im Garten nützlich machen!“
Jonathan fand gerade noch genug Zeit, um ein kleines Stück Brot einzustecken und es seiner Maus zu bringen. Schnell schlüpfte er in die Gummistiefel, die Sebastian ihm hinstellte.
Er hatte noch nie so einen riesigen Garten gesehen. Mit offenem Mund starrte er auf die zahlreichen Obstbäume und die vielen Beete.
Ein derber Stoß in den Rücken riss ihn aus seinem Staunen. „Los, komm! Nimm den Spaten. Wir müssen die Beete umstechen“, flüsterte Sebastian. „Und Mama will, dass wir die Kartoffeln setzen.“
Der Kartoffelacker war eine große Fläche brauner Erde, die sich bis zum Waldrand erstreckte. Jonathan erschien sie unendlich, und je länger er die ungewohnte Arbeit tun musste, desto größer kam sie ihm vor.
Bis Mittag hatten die Jungen zwei Reihen geschafft. Sämtliche Muskeln und Knochen in Jonathans Körper schmerzten.
„Los, ab ins Haus – Hände waschen und zu Tisch“, knurrte Onkel Paul. Es waren die ersten Worte, die er an die Jungen richtete, seit sie nach dem Frühstück den Garten betreten hatten.
Es gab Blutwurst mit Bratkartoffeln. Jonathan starrte misstrauisch auf den Teller und stocherte vorsichtig an der Wurst. Die Haut war hart und ließ sich nicht durchstechen.
„Wenn du das nicht magst, nehme ich es.“ Sebastian zog blitzschnell Jonathans Teller weg und kippte ihn über seinen eigenen.
Unter Pauls starrem Blick machte Jonathan sich ganz klein. „Eines sag ich dir“, schnarrte sein Onkel. „Du wirst mit dem vorlieb nehmen müssen, was bei uns auf den Tisch kommt. Ist es dir nicht gut genug, kriegst du eben nichts.“
Jonathan saß ganz still da. Sein Herz hämmerte wild und in seinem Bauch ballte sich wieder dieser große Klumpen zusammen, den er schon so gut kannte. Er hatte jetzt ohnehin keinen Hunger mehr.
Die Klamms beendeten ihre Mahlzeit schweigend.
Als sie die Küche verließen, steckte Sebastian ihm heimlich ein Stück Brot zu. „Dafür hab ich etwas bei dir gut“, flüsterte sein Cousin. Jonathan nickte mechanisch. Der Klumpen in seinem Bauch hatte sich in einen merkwürdig brennenden Schmerz verwandelt, der Tränen in seine Augen stiegen ließ. Er wischte sie verstohlen ab.
Weinen half bestimmt nicht.
Als Jonathan am Abend den Kasten öffnete, um einen Pyjama herauszuholen, waren alle seine Kleider verschwunden. Stattdessen lagen da die Stoffhosen und Hemden, die auch Sebastian trug.
Minutenlang starrte er auf den sorgfältig geschlichteten Stapel, ohne etwas wirklich wahrzunehmen. Dann weinte er doch.
Die Osterferien verbrachten die Jungen fast ausschließlich im Garten. Bis zum Ende der Ferien waren der Kartoffelacker bestellt und die Gemüsebeete zur Bebauung vorbereitet.
Ein Osternest gab es nicht. „Reine Verschwendung, so ein Blödsinn“, knurrte Onkel Paul und warf Jonathan einen finsteren Blick zu. Auch zur Kirche gingen sie nicht. „Die ziehen einem nur das schwer verdiente Geld aus der Tasche“, war Onkel Pauls Kommentar dazu.
Tante Mina hatte genau zehn Eier gefärbt. Die teilten sie auf. Jonathan bekam nur eines. „Zehn lässt sich nun einmal nicht gut durch vier teilen“, grinste Sebastian und biss in sein drittes Ei. Über Tante Minas Gesicht huschte ein verzerrtes Lächeln.
Jonathans Augen brannten. Er wollte nicht weinen, aber der dicke Kloß in seinem Hals saß einfach zu fest. Er konnte nichts dagegen tun, die Tränen liefen von selbst über seine Wangen.
Onkel Paul fauchte: „Schäm dich, was heulst du? Ich kleb dir eine, undankbarer Bengel!“ Und Mina setzte hinzu: „Sei froh, dass wir dich aufgenommen haben. Du wärst sonst im Heim gelandet. Und da hättest du es bestimmt nicht gut.“
Erschrocken starrte Jonathan die beiden an, wischte hastig mit dem Ärmel über sein Gesicht.
Er verkroch sich mit knurrendem Magen in seinem Zimmer. Das geschah jetzt oft. Er hob den Käfig mit Micky auf das Bett. „Na, hast du immer noch Angst?“
Die Maus wich seinem ausgestreckten Finger aus und drückte sich in eine Ecke des Käfigs. Jonathan schluckte die Tränen, die sich schon wieder befreien wollten, hinunter. „Was ist mit dir? Du benimmst dich so seltsam. Ich tu dir doch nichts. Früher durfte ich dich immer herausnehmen und jetzt lässt du dich nicht einmal mehr anfassen. Ich glaube, du magst auch nicht hier sein, nicht wahr?“
Jonathan sehnte das Ende der Ferien herbei. Früher war das nie so gewesen. Früher waren ihm die freien Tage viel zu kurz erschienen, ausgefüllt mit all seinen Lieblingsbeschäftigungen.
*****
Am Ostermontag nahm Onkel Paul die beiden Jungen mit zur Tankstelle. Erst jetzt wurde Jonathan bewusst, dass er bereits über eine Woche bei seiner neuen Familie verbracht und noch nicht mehr als den Garten und das Haus gesehen hatte.
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