Sein Vater hob die Augenbrauen. „Du weißt, was wir besprochen haben. Das neue Fahrrad gibt es erst zu deinem Geburtstag.“
„Aber – das ist doch blöd! Ich will jetzt Radfahren. Nicht erst in tausend Jahren! Außerdem fahren alle aus meiner Klasse schon allein – nur ich darf nicht!“
Jonathan stampfte mit dem Fuß auf. „Das ist so ungerecht! Und alles nur wegen dieses dummen Unfalls. Was kann ich dafür, dass genau an der Stelle, wo ich bremsen musste, noch Streusplitt lag! Mir ist ja gar nichts passiert!“
Sein Vater funkelte ihn an. „Ich habe diese Diskussionen satt! Du warst sehr leichtsinnig und das zeigt mir, dass du noch nicht reif genug für den Straßenverkehr bist. Ich kann dich also nicht alleine zur Schule fahren lassen! Und damit möchte ich jetzt dieses Thema ein für allemal abhaken!“
„Du bist gemein! Ihr seid beide gemein! Ihr behandelt mich, als wäre ich noch ein Baby! Ich bin fast zehn!“
Jonathan rannte aus der Küche und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu.
Er warf sich auf sein Bett und schlug mit der Faust auf die Matratze.
„Noch einen ganzen langen Monat muss ich auf meinen Geburtstag warten! Als ob das so viel ausmachen würde, wenn ich das Fahrrad jetzt schon bekomme. Papa ist einfach ekelhaft!“
Er setzte sich auf, musterte finster die Tapete an der Wand. Teddybären marschierten in einer Reihe. Jonathan hatte einigen von ihnen mit schwarzem Filzstift Hüte und Schnurrbärte gemalt.
Die anderen werden mich auslachen, wenn ich zu Fuß zur Schule komme. Vor allem Fred, dieser Knallkopf!
Ein leises Klopfen schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken. Seine Mutter streckte den Kopf zur Tür herein. „Möchtest du mitfahren? Wir müssen noch einkaufen.“
„Nein“, fauchte er. „Lass mich einfach in Ruhe!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Wir kommen in spätestens zwei Stunden wieder.“
„Verschwindet doch und kommt nie wieder“, knurrte Jonathan. Aber erst, als er sicher war, dass seine Mutter es nicht mehr hören konnte.
Die Lust, im Hof zu spielen, war ihm gründlich vergangen. Er verbrachte eine ganze Weile damit, einfach nur trübsinnig aus dem Fenster zu starren.
Das Wetter hatte gewechselt. Jetzt regnete es und dicke Tropfen klatschten an die Fensterscheiben. Jonathan beobachtete wie sie auf das Glas trafen und in dünnen Rinnsalen die Scheibe hinunterliefen. Er fuhr die Spuren mit dem Finger nach. Wenigstens war seine Mutter nicht hier, um mit ihm zu schimpfen, weil er die Fenster beschmutzte.
„Eltern!“, sagte er zu Micky. Die weiße Maus saß in ihrem Käfig und beobachtete ihn aus roten Knopfaugen. „Immer haben sie etwas auszusetzen oder zu kommandieren. Wie einfacher wäre es, wenn sie nicht mehr da wären.“
Die Vorstellung jagte ihm einen kribbelnden Schauder über den Rücken und in seinem Magen breitete sich ein leises Ziehen aus.
Dann könnte ich immer tun, wozu ich gerade Lust habe.
Er stand auf und schlich in die Küche. Das Ticken der Wanduhr klang überlaut in der Stille.
Langsam zog Jonathan die verbotene Lade mit den Süßigkeiten auf. Eine angebrochene Tafel Milchschokolade lag darin. Er brach eine Rippe ab – nur eine. Mama würde das nicht merken. Und er tat das auch nur, weil seine Wut so groß war.
Aber die Schokolade schmeckte ihm nicht. Er legte den Rest zurück in die Lade, stieß sie mit einem Ruck zu und ging zurück in sein Zimmer.
Der Zeiger auf seinem Micky-Maus-Wecker war gerade einmal um fünf Minuten weiter gerückt.
Jonathan nahm eines seiner Fünf-Freunde-Bücher vom Regal über dem Bett und blätterte darin. Die Geschichte war ihm zwar schon bekannt, aber trotzdem vertiefte er sich erneut darin.
Als er das nächste Mal auf seinen Wecker sah, war eine Stunde vergangen.
Zehn vor vier.
Um diese Zeit lief immer die „Sesamstraße“.
Er schlurfte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an.
Nach der „Sesamstraße“ kamen der „Rosarote Panther“ und dann „Familie Feuerstein.“
Normalerweise musste danach der Fernseher ausgeschaltet werden. Aber diesmal war niemand hier, der ihm dies befahl.
Er sah sich noch die Hitparade an, obwohl sie ihn überhaupt nicht interessierte.
Sein Magen knurrte laut.
Sechs Uhr. Um diese Zeit gab es immer Abendessen.
Papa und Mama hätten längst zurück sein müssen. Sie verspäteten sich nie wesentlich, besonders dann nicht, wenn Jonathan alleine zu Hause blieb.
Er schaltete den Fernseher ab und starrte beunruhigt auf die Uhr. Was sollte er tun?
Sollte er zu Frau Rotter nebenan gehen und sie fragen, ob sie ihm etwas zu essen machen konnte? Oder lieber doch nicht. Frau Rotter würde es bestimmt seiner Mutter erzählen und das war einfach nur peinlich.
Es klingelte an der Tür.
Jonathan zuckte zusammen. Waren das seine Eltern? Aber sie hätten nicht geläutet sondern den Schlüssel benützt.
Er lief zur Tür, linste durch den Spion.
Mach niemandem auf, wenn du alleine bist. Vergewissere dich, wer vor der Tür steht.
Es waren nicht Mama und Papa, sondern die Nachbarin, Frau Rotter. Und ein Polizist.
„Jonathan? Bist du da?“ Frau Rotters Stimme klang seltsam dünn. Aber vielleicht lag das auch daran, dass sie durch die Tür sprach.
Er öffnete.
Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte es an ihren Gesichtern sehen.
Frau Rotter legte die Hand auf seine Schulter. Das hatte sie noch nie gemacht. Jonathan wich ein wenig zurück.
„Dürfen wir hereinkommen?“ Der Polizist musterte ihn ernst.
Jonathan nickte und führte sie in die Küche.
Schon wieder sahen sie ihn so merkwürdig an.
Der Polizist räusperte sich. „Jonathan. Du musst jetzt ganz stark sein. Es – es ist etwas sehr, sehr Schlimmes geschehen.“
„Was?“ Er verstand nicht.
„Deine Eltern sind doch weggefahren, nicht wahr?“
„Ja. Sie – sie sollten eigentlich schon hier sein.“
Werden sie mir jetzt sagen, dass sie nicht mehr wiederkommen?
Nein – das kann nicht sein. Ich habe das doch nicht ernst gemeint.
In Jonathans Hals saß plötzlich ein dicker Kloß. Er schluckte krampfhaft, aber der Kloß verschwand einfach nicht.
„Was ist mit Mama und Papa?“ Seine Stimme hörte sich fremd an.
„Sie hatten einen Unfall mit dem Auto. Die Straße war nass und dein Vater konnte nicht mehr schnell genug bremsen.“
Jonathan schluckte krampfhaft. Der Kloß wanderte in seinen Magen, ballte sich dort zusammen. „Haben – haben sie sich wehgetan?“
Der Polizist und Frau Rotter schüttelten den Kopf. „Nein“, sagte der Polizist. „Es tut mir so leid. Sie – sie sind gestorben. Es ging ganz schnell. Niemand konnte mehr etwas für sie tun.“
Der Kloß explodierte und breitete sich heiß in seinem ganzen Körper aus. „Das – das – glaube – ich – ich nicht“, hörte er sich selbst stammeln.
Frau Rotter legte wieder die Hand auf seine Schulter, aber er spürte es nicht. Sein ganzer Körper war taub und in seinem Kopf herrschte dunkle Leere.
Eine Woche später
Die Scheibenwischer des kleinen Fiats vermochten die strömenden Wassermassen kaum mehr zu bewältigen. Jonathan folgte ihren Bewegungen mit den Augen, bis er schwindlig wurde und die Augen schließen musste. So viel Regen. Vielleicht so viel, dass Frau Papst auch einen Unfall hatte und er dann auch sterben konnte. So wie Mama und Papa.
Die Frau vom Jugendamt, die das Auto lenkte, starrte konzentriert in die regennasse Dämmerung hinaus. Die Stille lastete schwer auf dem Jungen.
Vor einer Ewigkeit waren sie losgefahren. Nach Kirchweg, zu Onkel Paul und Tante Mina.
Seine neue Familie.
„Sie wohnen in einem kleinen Haus mitten im Grünen“, sagte Frau Papst vom Jugendamt. „Sie haben einen Sohn namens Sebastian, der zwölf ist, also zwei Jahre älter als du. Das ist doch schön. Dann hast du einen Spielkameraden und du bist nicht mehr allein. Und jetzt sind Osterferien, du hast also noch Zeit, dich einzugewöhnen, bevor die Schule wieder anfängt.“
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