Sachte legte er die Hand auf die Türklinke.
Ein Abgrund tat sich vor ihm auf, kaltes, schwarzes Grauen. Jonathan schnappte nach Luft, röchelte. Etwas schnürte seine Kehle zu. Er ging in die Knie, hielt sich am Türstock fest. Versuchte zu schlucken, diesen Knoten im Hals loszuwerden, aber es funktionierte nicht.
Vor seinen Augen tanzten feurige Punkte, drehten sich im Kreis.
Langsam sank er auf die Stufen vor der Haustür, stützte sich mit beiden Händen ab. Blind tastete er um sich, fühlte den von der Sonne erhitzten Stein unter seinen Fingern. Er umklammerte eine Stufe, das feste Material gab ihm Halt, denn noch immer hielt ihn diese alles umfassende Angst gefangen wie in einem klebrigen Spinnennetz.
Konzentrieren auf den Atemrhythmus ... alles ist gut … keine Angst … nur eine Panikattacke. Ich werde nicht sterben.
Ausatmen. Einatmen. Ausatmen …
Die Angst wich langsam, machte einer lähmenden Erschöpfung Platz.
Er legte den Kopf auf die Knie. Überließ sich der gähnenden Leere, die sich in seinem Inneren ausbreitete.
Nach einer Weile erhob sich Jonathan, noch ein wenig schwankend.
Er würde später in das Haus gehen. Jetzt konnte er es noch nicht.
Linz an der Donau, April 2012
Viktoria Sandgruber stand im Toilettenraum des Nobelrestaurants „Zu den drei Mühlen“. Sanfte Violinenklänge und zarter Rosenduft schwebten in der Luft. Der Raum strahlte exquisite Reinlichkeit aus mit den matt glänzenden, beigen Marmorfliesen. Aber sie achtete nicht darauf. Sie starrte in den Spiegel, sah die Wut in ihren Augen und stieß heftig die Luft aus.
Nun mach schon! Vergiss diesen Blödsinn! Du bist doch keine Träumerin!
Das hätte auch ihr Vater sagen können.
Sie schob trotzig ihr Kinn vor. „Ich bin aber nicht mein Vater. Ich bin anders! Ich bin ich!“
Energisch rieb sie ihre Hände unter dem Wasserstrahl. Seifenreste spritzten auf das blank geputzte Waschbecken. „Geschäft ist Geschäft! Ich gehe jetzt da hinaus und bringe das zu einem guten Ende.“
Viktoria trocknete ihre Hände ab und zog ihren Lippenstift nach.
Zur Hölle mit diesem Troger!
Schon als sie ihn zum ersten Mal in der Agentur getroffen hatte, war ihr sein überlegenes Lächeln aufgefallen. Ein typischer Selfmade-Man, der seine Ziele mit Hartnäckigkeit und einer Portion Arroganz erreichte. Er hatte nur auf ihren Ausschnitt gestarrt.
„Sei nett zu Herrn Troger, er ist schließlich ein wichtiger Kunde. Guter finanzieller Hintergrund, viel versprechende Ideen, ein innovatives Produkt. Wenn wir diesen Auftrag bekommen, haben wir gewonnen.“
Die Worte ihres Vaters und zugleich Chefs klangen wie Hohn in ihr nach. Nun – sie war nett genug gewesen und jetzt reichte es.
Nach einer hastig gemurmelten Entschuldigung hatte sie fluchtartig den Speiseraum verlassen, als Otto Trogers Bemerkungen unerträglich wurden.
Prüfend musterte Viktoria sich im Spiegel. Eine richtige Schönheit konnte man sie nicht nennen. Dafür waren ihre Gesichtszüge etwas zu herb, wie sie selbst fand. Normalerweise verstärkten das auch noch die streng zu einem Knoten frisierten und hochgesteckten Haare. Aber dieser Eindruck wurde heute geschickt durch die langen, dunkelblonden Locken gemildert, die auf ihre Schultern fielen.
Das war der erste Fehler, den sie gemacht hatte. Die Hochsteckfrisur verhalf ihr üblicherweise zu einem Gefühl von kühler Distanziertheit. Mit offenen Haaren fühlte sie sich verletzlich und angreifbar. Der zweite Fehler war die Wahl der Kleidung gewesen. Sie hatte durchaus sehr weibliche Rundungen vorzuweisen, die in dem schwarzen Cocktailkleid gut zur Geltung kamen, obwohl es einen dezenten Ausschnitt hatte. Der burgunderrote Lippenstift ließ ihren Mund sinnlich wirken – zu sinnlich.
Valentin würde sie so bestimmt nicht gefallen. Er hasste Make-up. Aber bei ihm hatte sie sowieso nicht die geringste Chance. Er liebte zierliche Dunkelhaarige. So wie Petra. Die beiden passten perfekt zusammen.
Sie verdrängte die aufkommende Bitterkeit. „Zum Teufel mit Valentin! Vergiss ihn endlich! Kehr auf den Boden der Tatsachen zurück! Valentin hat doch keine Ahnung vom richtigen Leben!“
Viktoria stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn du Teilhaberin der Agentur werden willst, musst du das bringen! Mach jetzt bloß nichts falsch! Du wirst diesem Troger sagen, was Sache ist! Er muss deine Meinung respektieren!“
Aber er ist nun mal ein arroganter Widerling , flüsterte eine Stimme hartnäckig in ihr. Und warum soll ich ihm nach dem Mund reden, nur damit ich einen Auftrag bekomme, mit dem ich ohnehin nicht glücklich sein werde!
Sie stieß den Atem aus. Andererseits – wie wichtig ist schon, was ich darüber denke? Ein Profi fragt nicht nach, er macht seine Arbeit!
Sie wollte wirklich nach ihrer Arbeit beurteilt werden und nicht nach ihrem Aussehen. Troger schien zu der Sorte Mann zu gehören, die glaubte, dass eine Frau, die einigermaßen gut aussah, einen Intelligenzquotienten wie ein Kuscheltier hatte.
Viktoria streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. „Nun mach schon, du blöde Kuh! Zeig es diesem Kerl!“
Sie puderte ihre Nase und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Mit einer heftigen Bewegung warf sie den Kopf zurück, presste die Lippen zusammen, straffte die Schultern und ging zurück ins Restaurant.
Gedämpftes Stimmengewirr und diskrete Beleuchtung empfingen sie. Troger hatte das Lokal mit Bedacht gewählt. Teuer und exquisit. Genau richtig für einen aufstrebenden Geschäftsmann, der nur an seinen Profit dachte.
Valentin verabscheute solche Leute. Doch er lebte ja auch in einer ganz anderen Welt. Wieder ein Grund, warum sie sich ihn so schnell wie möglich aus dem Kopf schlagen sollte.
Viktoria schluckte und versuchte, das Gefühl loszuwerden, in einer Falle zu sitzen.
Troger lächelte breit und zeigte zwei blendend weiße Zahnreihen, das Ergebnis intensiver und kostspieliger Zahnarztarbeit. Er war ein großer, schlaksiger Mann Anfang Dreißig mit kurz geschorenem Haar. „Da sind Sie ja wieder. Ich dachte schon, Sie hätten sich aus dem Staub gemacht. Aber ich warte natürlich gerne auf eine schöne Frau.“ Auf ihren protestierenden Laut reagierte er mit einer lässigen Handbewegung. „Doch, Sie sehen gut aus. So gar nicht wie eine dieser Öko-Tussis.“ Seine Augen glitzerten und sie bemerkte die Belustigung über ihr letztes Gesprächsthema darin. „Ich verzeihe Ihnen den kleinen Ausrutscher, wenn Sie versprechen, jetzt vernünftig zu sein.“
„Das bin ich durchaus.“ Viktoria nickte steif. „Ich habe inzwischen keineswegs meine Meinung geändert.“
Sein Lächeln verschwand. „Sie denken also noch immer, ich möchte den Leuten irgendwelches Giftzeug andrehen? Dann sollten Sie sich vielleicht besser informieren. Sämtliche Zusätze in meinem neuen Energy-Drink sind völlig unbedenklich. Aber setzen Sie sich doch erst wieder.“ Er wies auf den Stuhl neben sich.
Viktoria bemerkte, dass sein Weinglas schon wieder voll war. Die Flasche Welschriesling auf dem Tisch wurde beängstigend schnell leer. Doch offensichtlich war er an Alkohol gewöhnt, es war ihm nichts anzumerken.
Sie wich seiner einladend ausgestreckten Hand aus und ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder.
„Ich habe mir die Zutatenliste Ihres ‚Power of Nature’ angesehen. Wie können Sie glauben, dass ich dieses Gemisch aus künstlichen Farb- und Aromastoffen als frisch aus der Natur anpreisen kann?“, sagte sie fest.
Was rede ich da? Ich bin wohl übergeschnappt! Das kann mir doch alles völlig egal sein!
Trogers Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. „Ach lassen Sie das doch, meine Liebe. Darüber sollten Sie sich Ihren hübschen Kopf nicht zerbrechen. Sie sollen nur einen knackigen Slogan und ein Design mit Wiedererkennungswert liefern. Sie enttäuschen mich wirklich fast ein wenig. Ich hätte Sie als erfahrener und realistischer eingeschätzt. Dieses Gerede von moralischer Verpflichtung gegenüber den Kunden und nachhaltiger Produktion irritiert mich. Ihr Vater hat mir versprochen, dass Sie bestens für diesen Job qualifiziert sind.“
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