Der dritte Sohn wurde, der alten Tradition folgend, der Kirche versprochen. Dazu musste zwar ein ordentlicher Batzen Geld auf den Tisch gelegt werden… doch das Land blieb zusammen. Frieder Baumann war das Schicksal eines dritten Sohns zugedacht.
Mit zehn Jahren wurde Frieder in das Internat des Klosters nach Kall – Feldstein abgeschoben.
Nach wenigen Wochen im Kloster dachte er nicht mehr an sein Leben vorher. Die neue Welt war voller Eindrücke, die fortan seine Entwicklung bestimmten.
Wie der Hof folgte auch das Kloster Regeln, die eine Jahrhundert alte Übung hatten. Je früher der Junge die Familie verließ, umso weniger Mühe hatten die neuen Betreuungspersonen den Willen zu brechen… das Gehirn zu leeren. Die Geheimdienste der Staaten arbeiteten heute noch auf der Basis kirchlichen Grundlagen. Ihre Mitarbeiter wurden nach den alten Methoden konditioniert.
Im Kloster folgte der Tagesablauf einer einfachen Struktur. Da waren zunächst die Stundengebete, die acht Mal in vierundzwanzig Stunden abgehalten werden mussten. Der Abstand zwischen den Gebeten waren die Horen.
Die erste Hore wurde Vigil genannt und fand zwischen Mitternacht und frühem Morgen statt.
Danach folgten Laudes gegen sechs Uhr am Morgen. Meist eine halbe Stunde lang. Das gleiche wieder zur Vesperzeit, als zentrales Abendgebet. Unmittelbar vor den Laudes wurde die Prim gebetet.
Gegen einundzwanzig Uhr schloss die letzte Hore den Tag mit dem Komplet.
Bei etwaigen Verfehlungen folgten nach dem Schlussgebet endlose weitere Gebete. Getreu dem Motto ‚ora et labora‘ wurde die verbleibende Zeit gearbeitet.
Irgendwann ging der Rhythmus bei jedem in Fleisch und Blut über. Das ausgeklügelte System von Lob und Tadel oder Belohnung und Bestrafung bestimmte das Verhalten, der auf engem Raum zusammen lebenden Menschen.
Frieder fügte sich problemlos in den Ablauf des Klosters ein. .
*
Kapitel 7
23. Juni 2011 08:00 Uhr
Die Trompete riss Claudia aus ihren Überlegungen. Drei Töne. Einen Augenblick Stille. Dann spielerische Klaviermusik. Ein klassisches Thema, das ihr jedoch unbekannt war. Nach einer halben Minute setzte ein wunderschöner Bariton ein:
Von der Pein, die ich empfunden,
ist mein Antlitz abgeschwunden,
Ungeduld macht die Gestalt
mir vor meinem Jahren alt;
denn ich muss von allen Seiten
mit dem losen Haufen streiten,
der mir antut Schmach und Spott
und mich ädert auf den Tod.
Die Stille, die nach dem Lied eintrat, wirkte unwirklich in den beginnenden Sommervormittag.
Ein Choral. Er klang in Claudias Innerem nach und löste beklemmende Gefühle aus. Welch schwermütiger Text: ‚Von der Pein, die ich empfunden, ist mein Antlitz abgeschwunden‘. Wer hatte Pein erlitten? Pater Anselm? Wahrscheinlich nicht. Es musste der Entführer oder was immer er war, sein. Was geschah hier? Eine Geiselnahme wurde immer wahrscheinlicher. Wer inszenierte dieses Schauspiel? Welches perverse Gehirn steckte dahinter? Claudia fluchte, ob ihrer Ohnmacht. Die Gedanken musste sich jemand anders machen. Hoffentlich schalteten die Kollegen vor den Bildschirmen und analysierten den Choral.
„Guten Morgen“, die männliche Stimme schallte laut über den Platz und riss Claudia aus ihrer Versunkenheit. „Es ist acht Uhr. Sie haben zwölf Stunden Zeit, das Leben des Priester zu retten.“ Eine kleine Pause „Frau Plum, wenn ich richtig verstanden habe?“
Sie nickte. Ihr Blick hetzte wild durch das Umfeld und suchte nach dem Ursprung der Stimme. Die Lautsprecher waren noch immer nicht gefunden. Geistesabwesend drückte sie die Kapsel der Freisprecheinrichtung des Handys ins Ohr, schaltete das Handy ein und drückte die Kurzwahltaste ihrer Kollegin Maria. Prompt kam die Bestätigung, dass sie tatsächlich unter Beobachtung standen.
„Eine kluge Entscheidung. Sie werden alles Wissen von außerhalb benötigen. Dazu ein guter Rat: Sprechen Sie alles aus, sonst wird der Pater nicht überleben.“ Der Unbekannte klang leiser. Er hatte die Lautstärke gedimmt. Seine Stimme drang weich und angenehm, wenn auch durch die Übertragung ein wenig verzerrt, zu ihr. Die Stimmlage und das Timbre klangen bekannt. Er war der Sänger des Chorals.
„Sie sind für diese Show verantwortlich? Wer sind Sie?“ Claudia hatte keinen Plan. Die Stimme erwischte sie kalt. Dabei überkam sie fast etwas, wie Erleichterung. Eine Geiselnahme. Kein Spinner, der sie narren wollte. Und, das Wichtigste: Bei einer Entführung wurde ihr der Fall entzogen. Das LKA übernahm. Sie musste nicht auf der weltweiten öffentlichen Bühne agieren. Da kamen andere zum Zug.
„Uninteressant im Moment“, entgegnete die unbekannte Stimme.
„Sagen Sie mir, wer Sie sind? Was soll der Unsinn? Lassen Sie sofort den Menschen dort auf der Kirchenbank frei.“
„Dazu kommen wir später. Im Moment nicht.“ Die Stimme klang amüsiert.
„Was wollen Sie?“
„Vielleicht sage ich es Ihnen… oder auch nicht.“
„Vielleicht höre ich Ihnen zu … oder auch nicht.“ Claudia äffte ihn nach. Ein Irrer, der spielen wollte?
„Sie spielen mit dem Leben des Paters.“ Die Stimme wurde kalt.
Konnte der auch noch Gedanken lesen, dachte Claudia. Er hatte den Ball zurück geschoben. „Lassen Sie den Priester frei.“
„Alles zu seiner Zeit. Und… ob er frei kommt, liegt bei Ihnen.“
„Was wollen Sie überhaupt? Ich verstehe Sie nicht.“
„Frau Plum“, die Stimme wurde spöttisch. „Das ist eine Geiselnahme… eine Entführung. Haben Sie es kapiert?“ Er zog die Sätze gedehnt in die Länge. „Ich hatte genügend Zeit, Sie zu beobachten. Seit Sie hier auftauchten, habe ich alle Informationen zusammengetragen, die im Netz zur Verfügung standen. Sie werden als intelligent und sehr erfolgreich beschrieben. Wollen Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen?“
„ Der Choral ist von Louis Bourgeois. Siebte Strophe. Mehr weiß ich noch nicht“, Marias Stimme sprach durch den Knopf im Ohr.
„Auf Ihre Einschätzung meiner Person kann ich verzichten. Außerdem mag ich kein überhebliches Geschwafel. Lassen Sie uns zum Kern kommen. Noch einmal: Was wollen Sie?“ Claudia spielte mit dem Gedanken, den Unbekannten zu reizen, wusste jedoch, dass sie vorsichtig sein musste. „Gut“, sagte sie, nachdem er schwieg, „lassen Sie mich dem Mann Erleichterung verschaffen. Der bringt sich ja um.“
„Sie wissen selbst, wie leidensfähig der Mensch ist. Bei dem… dem Wesen können Sie davon ausgehen, dass er durchhalten wird.“
„Falls ich Sie richtig verstehe, besteht eine Verbindung zwischen dem Priester und Ihnen?“
„Mutmaßen Sie nicht. Suchen Sie Fakten.“ Die Stimme klang wieder belustigt.
Verdammt, dachte Claudia. Ich stehe auf dem Präsentierteller und wer weiß wie viele Menschen sahen sie und hörten zu. Das war die absolute Arschkarte. Sie konnte nur verlieren.
Was mochte er wollen? Eine normale Geiselnahme sah anders aus. Der Pater und die Stimme kannten sich, so viel war klar. Ging es um Rache? Der Priester auf der Gebetsbank. Ein Zeichen? Aber welches?
„Fakten. Geben Sie mir Hinweise.“ Wie sie es hasste. Jetzt musste Sie dem Geiselnehmer auch noch Brei um den Mund schmieren, damit er wohlgesinnt blieb.
„De mortuis nil nisi bene… in Deutsch: Über Tote nichts sagen, es sei denn Gutes.“
Auch das noch. Vorhin während der pompösen Eröffnung mit dem Choral, beschlich sie schon die Ahnung. Kirche und ein Intellektueller. Dafür war Claudia die denkbar ungeeignetste Person. Das letzte Mal hatte sie eine Kirche während ihrer Kommunion von innen gesehen. Hoffentlich kamen die Spezialisten des LKA bald.
„Pater Anselm lebt. Sie wollen nichts Gutes über ihn sagen. Deshalb lebt er noch.“
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