„Warte“, Heinz hielt sie auf. „Wer weiß, womit er bestückt ist.“
„Daran hab‘ ich auch schon gedacht.“ Nachdenklich musterte sie die Umgebung. Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. „Wir müssen uns ein Bild machen und können nicht abwarten, ob etwas geschieht. Ich muss diese Stimme hören. Außerdem scheinen die erste und zweite Hürde ungefährlich für den Priester zu sein. Ich geh‘ jetzt auf ihn zu.“
„ Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“
Obwohl Claudia damit rechnete, stockte ihr Schritt. Jetzt erst recht. Trotzig ging sie weiter. Der warnende Ton schrillte.
„ Ich bitte Sie eindringlich. Bleiben Sie stehen. Pater Anselm wird sterben, falls Sie weitergehen.“
„Komm zurück, Claudia. Mach‘ keinen Unsinn. Hier ist mir zu viel technischer Schnickschnack.“ Heinz zeigte auf die Webcams und mindestens drei Bewegungsmelder, die er ausgemacht hatte. „Ich hab‘ keine Lust deine Einzelteile aufzusammeln. Der Pater antwortet nicht auf die Fragen der Kollegen.“
„Ja. Ich hab‘ es schon gehört.“ Claudia nahm die Sonnenbrille ab und versuchte Blickkontakt mit dem Gefesselten aufzunehmen. Unmöglich. Die Augen vor ihr fixierten starr die Kuppel des Oktogons. Der Mund bewegte sich, ohne, dass ein Ton herüber drang. Sie versuchte von den Lippen zu lesen. „Der betet in einer Tour den Rosenkranz“, stellte sie staunend fest. „Eine Art Meditation. Der bekommt von uns nichts mit. So etwas hab‘ ich noch nicht erlebt. Lass‘ die Spezialisten kommen.“
Heinz Telefon klebte schon an der Backe.
Ratlos kreisten Claudias Gedanken. Sie konnte unmöglich die Warnungen der installierten Technik ignorieren. Möglicherweise war das Leben des Mannes in Gefahr. Wenn es nur das Seil war, bestand keine akute Lebensgefahr. Sie waren ausreichend vorbereitet, falls er umfiel. Doch heutzutage musste man mit allem rechnen. Sie hatte keine Vorstellung. Alles war möglich.
Zog dieser Mensch eine Schau ab?
Oder ein perverses Schwein, das den Priester zur Schau stellte?
Am Rande nahm sie die Blicke der Zuschauer wahr, die in den Fenstern des Rathauses hingen. Hatte deren Dienst schon begonnen? Vielleicht Gleitzeit.
Sie wusste, dass die Maschinerie angelaufen war und Kollegen die Mitarbeiter der Stadt sowie die Bewohner der umliegenden Häuser befragten.
„Pater Anselm. Mein Name ist Claudia Plum. Ich bin Kriminalbeamtin und möchte mit ihnen sprechen“, rief sie dem, in scheinbarer Andacht versunkenen, Mann zu.
Die Augen lösten sich kurz von der Kuppel und die Lippen stockten. Nur einen Augenblick. Nichts sonst zeigte, dass er sie gehört hatte. Also doch auf dieser Welt, dachte sie. Mehr und mehr befürchtete sie, dass dieser Mann sie narren wollte.
Weitere Streifenwagen trafen ein. Die Beamten stellten Gitter vor die rot weißen Absperrbänder und die anwachsende Menschenmenge.
„Lasst die Kuppel untersuchen. Dort, wo er hinschaut. Ja und… die übrigen Dächer auch“, beauftragte sie einen Kollegen. Unvorstellbar, wenn dort jemand mit einem Gewehr postiert war.
„Pater Anselm. Verstehen Sie mich überhaupt? Sagen Sie etwas.“ Claudia versuchte erneut Kontakt aufzunehmen. Die Litanei, die lautlos über seine Lippen kam, unterbrach nicht.
Verdammter Mist. Sie musste irgendwie dorthin gelangen, um dem armen Mann zu helfen. Wann kamen endlich die verdammten Spezialisten und untersuchten den Ort nach Sprengstoff?
Heinz telefonierte noch. Ihr Blick folgte den Sonnenstrahlen die zögerlich zur Mitte des Platzes vordrangen und den Priester einfingen. Ein laues Lüftchen strich vom Markt herunter und trug den Duft der Kräuter des Karlsgartens zu ihr. Unwillkürlich versuchte der Geruchssinn zu unterscheiden.
„Wir sind im Netz“, unterbrach Heinz lapidar den Gedankengang und steckte das Handy weg. „Die Zentrale hat Maria aus dem Bett geholt. Sie hat eine Webseite gefunden, auf der alles hier aufgezeichnet wird.“ Er machte eine Armbewegung, die den Katschhof umfasste. „Die Medien sind auch schon da“, er wies über ihre Schulter. Eine Kamera des WDR zeichnete jede ihrer Bewegungen auf und die Vertreter der schreibenden Zunft versuchten die Absperrung zu überwinden. „Maria benachrichtigt die Spezialisten.“ Oberkommissarin Maria Römer arbeitete ihnen, in der Regel, im Polizeipräsidium zu. Die ausgewiesene PC-Spezialistin ergänzte ihr Team. Maria hatte Normaldienst, der in ungefähr einer Stunde begann. Claudia machte sich eine Gedankennotiz. Wer war so clever und hatte die Kollegin gerufen?
„Du spinnst. Wieder einer deiner verrückten Einfälle.“ Sie grinste belustigt.
Heinz schüttelte mit ernstem Gesicht den Kopf.
„Im Netz? Ich werde verrückt. Was für ein Irrsinn…?“ Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, als ob eine ansteckende Krankheit hatte. Unwillkürlich suchte ihr Blick die Kameras.
„Ein kleiner Hinweis“, flüsterte Heinz verschwörerisch. „Der Ton wird auch übertragen.“
„Wir werden über die Scheißdinger gefilmt und abgehört?“ Sie verlor die Kontrolle und nickte ungläubig zu den Webcams. „Stell‘ die… die“, sie stotterte und brach ab. „Ich glaub‘ es nicht.“ Claudia erlangte schnell die Fassung wieder. Ihre Augen wurden hart. Sie ignorierte den prickelnden Gänseschauer zwischen den Schulterblättern. Unvorstellbar. Aber das war der Priester vor ihr auch. „Können wir das irgendwie abstellen? Pervers, absolut pervers.“
„Wir müssen abwarten.“ Heinz flüsterte weiter. „Es kann nicht mehr lange dauern bis das LKA hier ist.“
„Was geschieht hier?“ Sie fragte ebenso leise zurück.
Heinz hob die Schultern.
Sie riss sich und zusammen. „Haben wir schon etwas über diesen Pater Anselm?“ Claudia nickte zu dem Mann im Priestergewand. Sie schätzte ihn auf Anfang, Mitte Sechzig. Dunkles kurzes Haar ergraute leicht an den Schläfen. Das Gesicht asketisch, fast mager. Im Gegensatz zur kräftigen Figur. Über eins neunzig.
„Maria ist dran und besorgt uns, was sie bekommt“, antwortete Heinz.
Die Hoffnung auf einen Scherz oder Werbegag zerplatzte wie eine Seifenblase.
Die Sonne schien jetzt in den Hof. Unbeeindruckt pickten die Tauben auf dem Boden.
*
Kapitel 4
23. Juni 2011 06:30 Uhr
Der Mann beobachtete die junge Frau mit dem missmutigen Gesicht. Eine steile Falte querte über der Nase ihre Stirn. Sie trug ein grünes Kostüm, das die sportliche Figur betonte. Braunes, leicht lockiges Haar krollte in die Stirn und fiel bis auf die Schultern hinab.
Plum und von der Mordkommission hatte sie sich dem Polizeibeamten vorgestellt. Graugrüne Augen sahen mehr belustigt, als verwundert auf den knienden Priester.
Eine anziehende, fast schöne Frau, dachte er. Der Ausdruck ihres Gesichts wechselte ständig und ließ die Emotionen ablesen. Empfindsam und doch strebsam, ging ihm durch den Kopf. Sie sah müde aus. Irgendwie verkatert. Oder musste sie den Nachtdienst überziehen? Hatte sie vielleicht Kinder, die sie über Nacht in Trab hielte? Erst einmal abwarten. Er hatte Zeit genug. Sie schien die geeignete Person für die vielen Zuschauer, die er erwartete. In einer Stunde würde er mehr wissen.
Er sah aus dem Fenster des Zimmers auf den Elisengarten. Langsam erwachte die Stadt. Eilig strebten die Menschen, wahrscheinlich, ihrem Arbeitsplatz zu. Vom gleichen Fenster sah er auf den Münsterplatz und den Dom. Dahinter lag der Katschhof. Dafür hatte der Mann im Moment keine Zeit. Auf dem kleinen Schreibtischecke warteten zwei betriebsbereite Notebooks. Der linke zeigte den Katschhof. Hier hatte er die Möglichkeit, mit Holgers Programm, die einzelnen Kamerapositionen zu schalten. Irenes Idee, zusätzliche Webcams anzubringen war gut. Falls ein findiger Kopf, aufgrund der Aufnahmen, herausfand, dass er vorhandene Aufnahmegeräte nutzte, konnte die Aktion schief laufen.
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