Auf dem rechten Computer loggte er gerade bei der NRW Polizei ein und rief die Daten für Plum auf. Kurze Zeit später las er die Vita der Hauptkommissarin.
Zweiunddreißig Jahre. So alt, wie er und schon Leiterin der Mordkommission. Sie musste gut sein. In Würselen geboren. Damals wohnhaft in Geilenkirchen. In Düsseldorf Schule und Gymnasium. Polizeiakademie in Münster. Abschlüsse sehr gut. Was bewog eine derart intelligente Frau, Mord und Totschlag zu ihrem Job zu machen? Jetzt wieder wohnhaft in Geilenkirchen. Nicht verheiratet und nicht geschieden. Keine Kinder. An ihre dienstlichen Beurteilungen kam er nicht heran – fehlende Berechtigung. Er hätte Holger darauf hinweisen müssen, dass das unter Umständen von Bedeutung war. Jetzt konnte er auch nichts mehr ändern.
Er musste sie also kommen lassen. Während der Planung war die Polizei ein Randthema. Mit den möglichen Leitungsfunktionen der Aachener Polizei für diesen Einsatz hatte er sich nicht auseinandergesetzt. Er überlegte: Im weitesten Sinne hatte er eine Entführung eingeleitet, indem er Huber machtlos auf dem Katschhof zurückließ. Quatsch, sagte er sich. Dann müsste das LKA oder gar das BKA die Leitung des Einsatzes übernehmen. Für diese dummen Gedanken war es zu spät. Er musste flexibel bleiben. Nein. Das war keine Entführung. Alles minutiös geplant und dann ein solches Risiko. Aber, er saß am längeren Hebel und die Polizistin war jederzeit austauschbar. Aber nein, dachte er, weshalb? Intelligenz und Emotion – die richtige Mischung für sein Vorhaben. Wahrscheinlich musste er sich auf Psychologen einstellen und auf wer weiß wen. Jeder andere hätte seinen Plan besser in die Tat umgesetzt. Jetzt war e zu spät.
Mit Abscheu zoomte er die Geisel näher. Was mache ich mit dem Schwein, wenn mein Plan nicht gelingt? Umbringen, signalisierte sein dunkles Ich, und schön langsam. Er schüttelte den Kopf. Dazu würde er nicht in der Lage sein. Oder doch?
Er fuhr mit der Maus auf das Fenster mit der Polizistin Plum. Diese Frau würde ihn den heutigen Tag begleiten. Er legte sich fest.
*
Kapitel 5
23. Juni 2011 07:30 Uhr
„Pater Anselm“, Claudia winkte, schimpfte, hüpfte oder stand einfach still vor der scheinbaren Geisel, im ungefähren Abstand der Entfernung, die das erste Warnsignal auslöste. Den Hinweis von Heinz auf die Übertragung im weltweiten Netz verdrängte sie. „Hören Sie, guter Mann. Ich kann Ihnen wahrscheinlich helfen, wenn Sie mitmachen. Ihr Schweigen bringt doch nichts.“ Sie unternahm einen neuen Versuch.
Stoisch verharrte der Priester in seiner Stellung. Mehrfach richtete er zwar seinen Blick auf sie und zweimal drehte er den Kopf. Hinter dem Glitzern seiner merkwürdigen Augen, nahm sie Trotz wahr.
Weshalb war der Mann so störrisch? Der dunkle Pullover, den er trug, wies keinerlei Ausbuchtungen auf, die davon zeugen konnten, dass er eine Sprengladung trug. Das Oktogon, Dom und Rathaus sowie die umliegenden Dächer waren frei von Heckenschützen. Wer oder was veranlasste ihn zum Schweigen?
Ein merkwürdiger Mensch, der sofort in die Schublade ‚unsympathisch‘ gesteckt wurde. Sie musterte ihn. Er wirkte weder ängstlich noch verstört. Er kniete lediglich stoisch in seiner Haltung und die Lippen bewegten sich unaufhörlich – wie sie jetzt wusste – im Gebet. Sie hatte irgendwann gelesen, dass dieser Trick in vielen Religionen angewandt wurde, um äußere Einflüsse auszuschließen. Eine Art von Selbsthypnose, um die vielen Bußen die den Gläubigen und Dienern des Glaubens auferlegt wurden, unbeschadet zu überstehen. Oder, um vielleicht den zeitlichen Faktor auszuschließen. Wenn sie früher auf den Bus wartete, hatte sie immer die Sekunden gezählt. Bei dreihundert waren die fünf Minuten voll. Die Zeit verkürzte sich. Der Priester strahlte Unnahbarkeit aus, die fast körperlich spürbar war. Arrogant, dachte sie. Dem möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Schluss, schalt sie sich. Welch blöde Gedanken? Wenn nicht alles täuschte, war der Geistliche eine Geisel. Antipathie oder Sympathie spielten keine Rolle.
„Wird Ihr Leben bedroht?“ Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe.
Seine Augenlider flatterten.
„Ihr Leben ist in Gefahr“, stellte Claudia fest.
Der Priester kniff die Augen zusammen, ohne dass sein Gesichtsausdruck eine Veränderung zeigte.
Also bestand Lebensgefahr. „Einer oder mehrere?“
Die Augenlieder flatterten.
„Einer?“ Klar, wie sollte er ihren Fragen antworten.
Die Augenlider flatterten.
„Also mehrere“, stellte Claudia fest.
Die Augenlider flatterten.
„Sie dürfen mir keine Informationen geben?“
Die Augen kniffen zusammen und musterten sie danach spöttisch.
Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie musste die Kontrolle behalten und durfte die aufkommenden Emotionen nicht zulassen. Der Mann stieß sie ab, obwohl sie noch kein Wort gewechselt hatten. Ihre emphatischen Sensoren sprangen an und signalisierten Abneigung.
Der kniende Priester legte nicht das Verhalten eines Opfers an den Tag. Klar, da war eine gewisse Anspannung, die sie jedoch mehr als Wachsamkeit diagnostizierte. Keine Angst. Im Gegenteil.
Was mochte der Urheber dieses Aktes bezwecken?
Unbehaglich spürte Claudia die Cams. Fast körperlich wurden ihr die Blicke von wer weiß wie vielen Zuschauern bewusst. Einen Moment stand sie hilflos herum, während sie abwog, inwieweit weitere Fragen das Opfer bedrohten. Die Informationen, die zurzeit zur Verfügung standen, reichten nicht für weitere Fragen, ohne zu riskieren, dass das Leben des Paters in möglicherweise akute Gefahr geriet.
Die Übelkeit von vorhin drängte wieder in ihre Speiseröhre. Hoffentlich musste sie nicht vor einem Millionenpublikum kotzen. Millionen? Claudias Gedanken stockten und nahmen langsam die tatsächliche Situation auf. Mit Macht unterdrückte sie den Ansatz von Panik, der sie zu überwältigen drohte.
*
Maria Römer beobachtete gebannt Claudias verlorene Gestalt auf dem Monitor. Ihre Chefin sah übernächtigt und verletzlich aus, dabei unglaublich jung. In ihrem Gesicht spiegelten die widerstreitenden Gefühle, die sie empfand und auch etwas, wie Angst. Maria rückte ihre Augen näher vor den Monitor. Die Cams setzten Claudia gut in Szene. Die Übertragung war von hervorragender Qualität. Wer immer für die Technik verantwortlich zeichnete, verstand etwas davon. Da war tatsächlich, ganz hinten in den Augen, Furcht.
Das bildest du dir ein, sagte Maria ihren Gedanken. In der zwar kurzen, jedoch sehr intensiven Zeit, während ihres gemeinsamen Dienstes, hatte sie ähnliches nie bemerkt. Claudia war ein Kopfmensch mit zwar intuitiven Gedanken, jedoch nie ängstlich oder gefühlsbetont. Während eines Einsatzes konnten sie blind auf diese Frau vertrauen.
Jedoch, tatsächlich. Die Kameras holten die Gefühle gnadenlos aus dem Spiel der Muskeln Ihres Gesichts. Claudia fürchtete sich. Zumindest befand sie sich in einem Zwiespalt.
Vielleicht schlecht geschlafen, dachte Maria.
„ Ihr Leben ist in Gefahr“, stellte Claudia gerade auf dem Bildschirm fest.
Damit erinnerte sie Maria wieder an ihre Aufgabe.
Oberkommissarin Maria Römer zählte neunundvierzig Lenze. Ihre frauliche Figur maß einhundert zweiundsechzig Zentimeter. Sie hatte ihre blonde Phase. In regelmäßigen Abständen wechselte die Haarfarbe und Frisur. Zurzeit umrahmte die streng frisierte Dauerwelle, das ein wenig überschminkte Gesicht. Ebenso auffällig wie die Person, war ihre Kleidung. Der enge, zwei Fingerbreit über dem Knie endender, Rock, spannte über den fülligen Hüften. Die Knöpfe der auffällig gelben Bluse wurden von ihrem Vorbau unter Spannung gehalten. Maria war eine Frohnatur und stets in irgendwelche Affären verstrickt. Sie beherrschte wie kaum eine zweite, das Medium PC.
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