Kurz nach sechs erhielt sie den Anruf von der Einsatzzentrale. Zehn Minuten später war sie im Büro.
Maria hatte in der lauen Nacht kaum geschlafen und war schon um fünf Uhr auf den Beinen. Senile Bettflucht, fluchte sie. Dabei war klar, dass ihre jetzige Affäre die Hormone wie bei einer Achtzehnjährigen durcheinander wirbelten. Armin war zehn Jahre jünger und ihr war klar, dass sie ihn wahrscheinlich nicht auf Dauer halten konnte. Die biologische Uhr war gnadenlos und zeigte irgendwann den Altersunterschied auf.
Claudia und Heinz waren schon unterwegs, als sie im Präsidium eintraf. Ihre Nachfrage bei der Bereitschaft brachte kein Ergebnis. Ein Priester und Stimmen… sagte ihr nichts. Also normaler Morgendienst mit einem Spinner.
Maria schaltete, wie immer, den PC ein, um auf Facebook die neuesten Personenstatusmeldungen ihres Bekanntenkreises zu erfahren. Dabei rauchte sie, trotz des Rauchverbots, eine Zigarette und genoss den Kaffee.
Danach kam der Zeitpunkt, an dem sie sich langsam den dienstlichen Belangen und der elektronischen Post zu widmete.
Der Betreff einer Mail stach ihr sofort ins Auge ‚ Ein Maximum an Recht bedeutet sehr viel Unrecht‘. Noch so ein Spinner, dachte sie und öffnete die Nachricht neugierig.
Ein Link.
Auf dem heimischen PC hätte sie die Nachricht sofort gelöscht. Bei allem PC Wissen blieb immer noch ein wenig Restangst im Hinterkopf, ein Virus könnte ihre Dateien löschen. Nicht auszudenken, wenn die ganzen Kontakte in den Communitys verloren gingen? Undenkbar. Doch hier ließ die Firewall nichts durch, was dem System schaden konnte und sie war nicht persönlich betroffen.
Ein Klick, zwei Sekunden schwarzer Bildschirm und schon sah und hörte sie ihre Chefin „Pater Anselm. Sagen Sie doch etwas.“ Wahnsinn. Claudia stand im Zentrum der Szene und etwas abseits kniete ein Priester. Heinz Augen suchten unruhig den Platz ab und er hatte das Handy an der Backe.
Im gleichen Augenblick signalisierte die Telefonanlage ein eingehendes Gespräch. Sie drückte den Knopf für Freisprechen, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen.
„Maria?“ Heinz Bauers Stimme drang fragend an ihr Ohr.
„Wer denn sonst“, sagte sie aufgeregt. „Was ist los bei euch?“
„Was soll los sein. Irgendein Spinner hält einen Pater in seiner Gewalt und wir kommen nicht das Opfer heran.“
„Ist das der Typ, der links von dir kniet?“ Sie unterbrach ihn.
„Wo bist du?“ Maria sah auf dem Bildschirm, wie er sie suchte. „Wir brauchen dich an und für sich im Präsidium. Aber… wenn du hier bist, kann ich auch nichts machen.“
„Ich bin im Präsidium und sehe dich genau.“ Maria unterbrach ihn.
Heinz Gestalt versteifte. „Sag bloß…“
„Genau. Ihr seid im Netz. Ich bin vor wenigen Minuten darauf gestoßen. Eine Mail mit einem Link. Auf jeden Fall kann ich euch sehen und hören.“
„Scheiße. Maria lass‘ die Maschinerie anlaufen. Kidnapping. Oder besser noch, unterrichte den Polizeipräsidenten und die Staatsanwaltschaft. Dann sind wir auf der sicheren Seite. Ich hab‘ ein komisches Gefühl.“
„Du und deine Ahnungen. Claudia färbt schon auf dich ab.“ Maria graute vor den Ahnungen ihrer beider Kollegen. Sie war Realistin und stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Obwohl sie zugeben musste, dass das Bauchgefühl ihnen häufig weitergeholfen hatte. „Jetzt Schluss. Ich habe einiges zu tun.“ Maria rief Google auf und gab ‚pater anselm‘ ein. Dreihunderteinunddreißigtausend Ergebnisse. Die ersten Seiten zeigten Informationen zu einem Pater Anselm Grün. Der hatte nichts mit dem Priester auf dem Bildschirm zu tun. Sie musste mehr Daten haben, sonst suchte sie sich zum Krüppel.
Andere Kollegen waren schon bei der Arbeit, wie sie auf dem Monitor sah. Vielleicht hatte Kollegin Backes etwas, die das Bistum kontaktieren sollte. Sie drückte die Kurzwahltaste.
„Gerti. Bist du schon weitergekommen?“
„Nein. Es ist zum Mäuse melken. Die geben keine Informationen zum Personal. Vor allem nicht am Telefon. Hinzu kommt, dass bei denen der Dienst noch nicht begonnen hat.“
„Ruf‘ die Fahrbereitschaft und fahr‘ selbst dorthin. Mach‘ irgendeinem Priester Dampf unterm Hintern. Vorsorglich besorge ich beim Staatsanwalt einen Durchsuchungsbefehl.“ Kaum hatte sie das Gespräch beendet, rief sie den Polizeipräsidenten an.
„Römer hier, Herr Präsident.“
„Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden. Schauen Sie ins Internet. Kollegin Plum und Kollege Bauer drehen während der Dienstzeit einen Film.“
Maria verdrehte die Augen. Der Typ war bekloppt, das wusste sie schon immer.
„Deshalb melde ich mich, Herr Präsident. Wir brauchen das LKA. Sie sehen keinen Krimi. Das ist echt.“
„Ich werde alles veranlassen.“
Maria nickte verwundert mit dem Kopf. Er schaltete schnell.
Während des Telefonats klopfte der nächste Teilnehmer an. Sie drückte den entsprechend Knopf auf der Anlage.
„Dengler.“
„Herr Staatsanwalt. Sagen Sie bloß, sie sind auch schon online am Tatort.“
„Genau. Was ist da los?“
Sie erstattete einen kurzen Bericht.
„Ich bin schon auf dem Weg“, er beendete das Gespräch.
„Schei…benkleister“, fluchte Maria. Er war so schnell weg, dass sie die Durchsuchungsanordnung für das Bistum nicht beantragen konnte. Sie klickte durch das Menü ihres PC bis das entsprechende Formblatt erschien. Schließlich gab es Intranet.
Maria zündete die zweite Zigarette des Morgens an, als das nächste Gespräch herein kam.
„Maria, was macht Claudia auf dem Katschhof?“ Kurt, der Lebensgefährte ihrer Chefin. Wie immer meldete er sich ohne Vorstellung.
„Kurt, ich habe jetzt keine Zeit.“ Sie würgte ihn ab.
Auf dem Display sah sie, dass er umgehend einen weiteren Versuch startete. Sie hob ab.
„Was ist los bei euch?“, er ließ ihr keine Zeit etwas zu sagen. „Das ganze Dorf hängt im Internet und beobachtet Claudia auf dem Katschhof. Habt ihr eine Übung?“
„Ganz kurz… hier ist der Teufel los und ich habe keine Zeit. Das ist keine Übung. Claudia ist im Einsatz. Jetzt lass‘ mich in Ruhe.“ Sie unterbrach das Gespräch.
Rechts unten auf dem Monitor blinkte die Anzeige, zum Anzeichen, dass Mails eingegangen waren. Zweiunddreißig in den letzten Minuten. Dann wollte sie mal.
Kapitel 6
1977 – 1987 Frieder
Frieder Baumanns Geburt stand unter keinem guten Stern. Die kalte Januarnacht lag über dem Hof seiner Eltern nahe dem Eifeldorf Paustenbach als die Wehen einsetzten. Zum Krankenhaus nach Simmerath reichte die Zeit nicht mehr. Der Vater hatte schon genug Kälber zur Welt gebracht, um auch seine Geburt zu regeln. Als er die Nabelschnur abband, überlegte er kurz, ob er mit dem Kind nach draußen gehen sollte. Wenige Minuten hätten gereicht.
Frieder war der dritte Sohn und überflüssig.
Familie musste funktionieren.
Familie war der Erfolgsfaktor für den Bestand des Hofes.
Familie war unverzichtbar.
In die Familie gehörten zwei Söhne und beliebig viele Töchter. Der älteste Sohn, um den Hof zu übernehmen, der zweite zur Reserve, falls dem Älteren etwas zustieß. Die Bauern sahen das pragmatisch. Jeder weitere Sohn war Ballast auf den kargen Höfen und brachte Ärger.
Die Gesetzgeber hatten das Erbrecht geschaffen, das lediglich dazu diente, Jahrhunderte erprobte Erbfolgen und damit den Zusammenhalt des Landes zu zerstören.
Bei Mädchen war das kein Problem. Die wurden mit der Aussteuer abgefunden, die vertraglich so geregelt wurde, dass kein Anspruch geltend gemacht werden konnte. Der Pflichtteil wurde mit der Brautausstattung zu Lebenszeiten des Erblassers ausbezahlt.
Der zweite Sohn der Familie wurde als reine Arbeitskraft verschlissen und lebensunfähig gehalten, so dass er zu jeder Zeit auf die Zuwendung, egal welcher Art, des älteren Bruders angewiesen blieb.
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