„Du hast recht“, er bewegte den Stuhl zum Fenster und wandte ihr den Rücken zu. „Ich muss mich endlich wieder aufraffen. Ich habe Angst vor der Vergangenheit.“
„Ich weiß“, sie trat hinter ihn und gab ihrem Impuls nach und legte die Hände auf seine Schultern. Berührungen vermieden sie. Zum Geburtstag eine kurze Umarmung war das höchste von Gefühlsdarstellung.
Kapitel 3
23. Juni 2011 06:30 Uhr
„Claudia? Wir haben einen Einsatz.“ Heinz Bauer stürmte ins Büro.
„Wo?“ Claudia Plum schlürfte ihren Kaffee und sah mit übernächtigten Augen hoch.
Sie versahen seit sechs Uhr den dienstplanmäßigen Bereitschaftsdienst.
„Auf dem Katschhof. Ich hab‘ das Durcheinander nicht so richtig verstanden. Ein Priester und noch etwas mit Stimmen.“ Heinz hob die Schultern, zum Zeichen, dass er nichts anderes erwartet habe.
„Sind wir im Hyde Park? Dort werden immer Reden geschwungen. Was sollen wir dort? Wir sind die Mordkommission“, meinte Claudia lustlos.
„Stimmen… nicht reden. Die Kollegen sind alle im Einsatz. Los komm.“ Heinz versuchte seiner Chefin Beine zu machen. Sie war, wie immer, elegant gekleidet. Ein moosgrünes Kostüm mit knielangem Rock. Dazu eine dezente, leicht rosa angehauchte Bluse. Anfang dreißig und knappe einhundert siebzig Zentimeter groß. Alles in allem, eine attraktive Frau. In den ländlichen Gebieten ihres Einsatzbereiches wirkte sie häufig deplatziert. Doch ihr scharfer Verstand machte den äußerlichen Eindruck vergessen.
Claudia leitete nun etwas mehr als ein Jahr die Mordkommission in Aachen. Sie schneite aus heiterem Himmel in die Behörde. Ermittlungserfolge in Düsseldorf beschleunigten ihre Beförderungen. Eine adäquate Planstelle musste her. Sie übernahm die vakante Leitung der Mordkommission, als junge Hauptkommissarin.
Die ausgetreten, bequemen Sportschuhe passten nicht zur übrigen Erscheinung. Unter den halblangen brünetten Haaren musterten Heinz graue Augen.
„Dann wollen wir mal“, ihre vollen Lippen verzogen sich missmutig. Sie sah zur Uhr. „Noch eine Stunde“, sie seufzte, „und wir wären aus dem Schneider. Scheiß soziale Ader. Ich musste uns ja auf den Dienstplan setzen lassen. Was bin ich blöd.“
„Was willst du überhaupt? Der Ausflug in die Stadt ist allemal besser, als im Büro zu hocken. Wir haben tolles Wetter. Morgenstund‘ hat Gold im Mund.“
„Du und deine albernen Sprüche.“
„Mensch Claudia. Wir sollen mit einem Priester reden, wenn ich den Auftrag richtig verstanden habe. Das ist doch kein Aufstand.“
„Ich hab‘ letzte Nacht schlecht geschlafen und brauch‘ noch ein paar Minuten. Und dann…“, sie brach ab und erhob sich. Erst einmal war sie am gestrigen Abend mit Kurt in ein Rotweinfass gefallen und was sollte sie Heinz zu der unguten Ahnung erzählen, die sie überfiel, als er ins Büro kam. Ihre Kollegen hielten sie sowieso schon für bekloppt. Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Einsatz. Sie vertrug keinen Rotwein. Jetzt wummerten die Schläfen und das Gehirn stieß bei jeder Bewegung gegen die Schädeldecke. Die Augen fokussierten verschwommen die Umgebung. „Eine Augenblick.“ Sie machte sich an der Schreibtischschublade zu schaffen, bis sie ein Aspirin fand. Mit einem Schluck aus der Wasserflasche würgte sie Tablette hinunter.
*
„Lass‘ mich am Markt raus. Wir sehen uns dann gleich auf dem Katschhof“, sagte Claudia wenige Minuten später im Auto und verbarg ihre Augen und einen Teil des Gesichts hinter einer Sonnenbrille.
Heinz nickte zustimmend.
Sie lief am Postwagen vorbei, auf den Katschhof. Die Luft war bewegungslos und abgestanden. Sie brachte nicht die erwünschte Erfrischung für ihren Zustand. Eigentlich ungerecht dachte sie. Kurt hatte mindestens zwei Flaschen und den Rest aus ihrer getrunken. Und sie konnte wetten, er hatte heute Morgen keine Probleme. Als sie gegen fünf Uhr los fuhr, schlief er noch. Aber er hatte nie Schwierigkeiten nach Alkoholgenuss. Rechts lagen das Rathaus und links der Dom. Claudia hielt kurz inne und nahm die Atmosphäre auf. Sie hob die große Sonnenbrille auf die Stirn. Sofort explodierten tausende kleine Lichtpartikel in ihrem Gehirn und erinnerten an die abendliche Eskapade. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder fasste. Fast in der Mitte des Platzes drängte der Menschenauflauf um einen kreisförmigen freien Ausschnitt des Platzes. An dieser erhöhten Stelle schweifte ihr Blick ungehindert über den rechteckigen Hof. Er maß ungefähr vierzig Meter in der Breite und einhundert Meter in der Länge. Die heutige Fassung des Katschhofs entsprach sehr genau dem lang gezogenen Rechteck der inneren Pfalzanlage Karls des Großen. Kaum vorstellbar, dass einer der größten Despoten der Weltgeschichte über das Pflaster gewandelt war. Sie schob den Gedanken in den Hintergrund, denn dort kniete tatsächlich ein Mann in Priesterkleidung. Die ungute Anwandlung von vorhin überfiel sie wieder. Magensäure stieg durch die Speiseröhre in den Mund und hinterließ einen ätzenden, sauren Geschmack. Sie musste ein Glas Wasser haben.
Claudia schüttelte die Übelkeit ab und drückte die Schaulustigen beiseite. Dabei hielt sie zwanghaft den Mund geschlossen. Allein ihr Atem hätte den Weg frei gemacht. Sie sah auf den knienden Priester. Er erinnerte an die lebenden Skulpturen, die sie in Berlin und Stuttgart in den Einkaufsmeilen bewundert hatte. Ein Lächeln zuck*-
über ihre Lippen. Die erste Begegnung mit den statuenhaften Künstlern hatte während eines Urlaubes in Polen an der Ostsee auf der Strandpromenade von Kolobrzeg oder Kolberg, wie die Stadt auf Deutsch hieß. Cäsar, der römische Kaiser stand auf seinem Sockel und sah auf die Ostsee. Sein weißes Gewand leuchtete schon weitem. An seinem Fuß stand ein Blechbehälter. Ihr Vater gab ihr zwei Sloty, die sie dort hinein legte. In diesem Augenblick senkte der Kaiser den Palmwedel, den er in der Hand hielt und strich ihr damit über den Kopf. Doch als sie den Kopf hob, stand die Figur bewegungslos. Sie machte sich fast in die Hose und noch heute sorgte die damalige Situation für Gelächter.
Sie winkte einen Polizisten heran.
„Plum, Mordkommission“, sagte sie kurz. „Sie haben uns angefordert?“
Er erklärte ihr die Situation.
„Lassen Sie den Platz sperren und schaffen die Menschen weg.“ Langsam umrundete Claudia die kniende Person. Aus den Augenwinkeln sah sie Heinz näher kommen.
Seine kleine Gestalt schrumpft auch immer mehr, dachte Claudia. Ihr Kollege war jetzt dreiundsechzig Jahre alt. Die Jeans schlotterte, trotz seiner korpulenten Figur, am knochig werdenden Körper. Doch seine drei Haare waren akkurat gelegt. In sein sympathisches Gesicht grub das Alter die ersten tiefen Furchen. Sie sah mit Bedauern seinem Ruhestand entgegen. Ob er wohl auch schon länger arbeiten musste? Sie sollte sich erkundigen, ob die Rente mit siebenundsechzig auch für Beamte galt. Blöde Gedanken… sie hatten den Priester dort knien.
„So etwas hab‘ ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen“, flüsterte Oberkommissar Heinz Bauer. „Die Schnur um den Hals. Falls er sich bewegt…“, er machte eine Bewegung mit der Handkante am Hals vorbei. Er trat einen Schritt zurück, als sie ihm den Kopf zuwandte. „Hast du gekotzt?“, fragte er mit angewidertem Gesicht.
„Rotwein. Gestern Abend.“ Sie bekam einen knallroten Kopf.
Heinz wühlte in seinen Hosentaschen und zog ein paar grün umwickelte Eukalyptusbonbons hervor, die er immer bei sich trug. „Hier und pass‘ auf, dass du niemandem zu nahe kommst.“
Sie steckte sich gleich ein Bonbon in den Mund und reichte ihrem Kollegen in Gedanken das Einwickelpapier. „Ich versuch‘ zu verstehen, weshalb er in dieser unbequemen Haltung verharrt. Soweit ich sehen kann, liegen die Hände locker über der Lehne… siehst du, dort wo normalerweise das Gesangbuch liegt. Das Seil allein zwingt ihn nicht in die unangenehme Stellung. Es stranguliert ihn nicht, wie du meinst.“ Claudia ging auf die Knie nieder und suchte den Boden ab. „Pater Anselm sagte der Kollege der Streife. Eine Lautsprecherstimme soll sie aufgehalten haben, näher an ihn heranzukommen.“ Claudia schüttelte verwundert den Kopf und stand, ohne die Hände zu gebrauchen, auf. Erstaunt sah sie hoch. „Die Tablette wirkt tatsächlich. Die Kopfschmerzen sind weg. Ich geh‘ jetzt zu dem Priester oder was immer er sein mag.“
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