Ein weiteres Merkmal des Verbuschungssyndroms ist der minimierte Selbstanspruch an das äußere Erscheinungsbild, vor allem hinsichtlich der Körperpflege. Die Vernachlässigung derselben stellt sich ein mit der Erkenntnis, dass es sowieso niemanden interessiert, wie man herumläuft. Die Notwendigkeit, sich diesbezüglich zu disziplinieren, besteht vor allem deshalb nicht, weil es im direkten Umfeld keine Frauen gibt, die man beeindrucken kann (einschließlich der eigenen) oder darf (sofern man keine unbedingten Heiratsabsichten verfolgt).
Am bemerkenswertesten an Butzmanns Zustand war sein Bart, der den eindeutigen Beweis dafür lieferte, dass seine Ehe völlig im Eimer war. Nach allen Erfahrungen, die ich zu Zeiten meiner Forschungsaufenthalte auf den Philippinen gesammelt hatte, stand dies zweifelsfrei fest. Auf keine meiner damaligen weiblichen Bekanntschaften aus den Clubs von Cebu City und Manila übte eine männliche Gesichtsbehaarung auch nur den Hauch von erotischer Anziehungskraft aus. Dies wurde mir aber erst bewusst, als ich nach einem langweiligen Empfang im deutschen Kulturzentrum in Cebu City, auf der Nachbarinsel von Leyte, einmal zufällig frisch rasiert in meiner Lieblingsbar erschien und mir dort ein bisher nicht gekanntes Maß an Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, was mehrfach bestätigten Aussagen zufolge allein auf das Fehlen meines sonst vorhandenen Drei- bis Sieben-Tage-Bartes zurückzuführen war.
Für die Abneigung der philippinischen Frauen und vermutlich auch anderer Asiatinnen gegenüber Bärten hatte ich eine einfache Erklärung gefunden: Sie beruht auf der sexuellen Prägung in ihrer Kindheit. Da philippinische Männer nur einen spärlichen Bartwuchs aufweisen und diesen auch nur in sehr seltenen Fällen sprießen lassen, kannten die Mädchen von den Bezugspersonen, mit denen sie groß geworden sind – Väter, Brüder, Onkel – keine richtigen Bärte und sahen solche deshalb auch nicht als attraktiv an. In westlichen Ländern fanden zumindest manche Frauen Bärte in irgendeiner Form reizvoll, vermutlich weil sie als Kinder damit bei entsprechend ausgestatteten Familienangehörigen vertraut wurden. Als Indiz für diese These wertete ich den wissenschaftlich erbrachten Nachweis, dass Frauen und Männer solche Partner bevorzugen, die ihrem andersgeschlechtlichen Elternteil ähnlich sehen.
„Herr Biener.“ Butzmann ergriff nur zögerlich meine Hand, die ich ihm auffordernd entgegenstreckte, sah mir flüchtig ins Gesicht und dann auf den Boden. Irgend eine emotionale Regung, die so etwas wie Erstaunen oder gar Freude ausdrückte („Ja sowas! Das ist doch der Herr Biener? Ich glaub’s ja kaum! Das nenn` ich aber eine Überraschung!“), zeigte er nicht.
„Wie geht’s ihnen denn? Ich sehe, sie haben sich hier eine kleine Idylle geschaffen“, versuchte ich ein lockeres Gespräch zu eröffnen und ließ meinen Blick über die Beete schweifen, auf denen Bohnen, Zwiebeln, Tomaten und andere Gemüsesorten gediehen.
„Ja, ja. Macht viel Arbeit.“, gab Butzmann von sich. Vor allem deinem Weib, ergänzte ich in Gedanken.
„Ist aber sehr schön gepflegt. Gefällt mir wirklich gut. Das da drüben ist doch Spinat, wächst der gut hier?“ plapperte ich.
„Das ist Petsay. Ein Kohlgemüse.“
„Aha. Was machen sie mit den ganzen Sachen? Das ist ja sicher auch für die Bauern hier interessant. Mit Gemüse lässt sich doch gutes Geld verdienen. Ich habe gehört, dass es mit dem Reis hier nicht mehr so gut läuft.“
„Nein, Reis läuft hier nicht mehr so gut.“
„Sie arbeiten hier doch als landwirtschaftlicher Berater, wie ich mitbekommen habe. Was empfehlen sie denn den Bauern?“
„Ich leite ein Projekt von Food-for-Asia. Das habe ich auch selbst entwickelt. Der traditionelle Reisanbau hier ist nicht mehr zeitgemäß. Muss man ganz klar sehen. Die Bauern wollen auch am Fortschritt teilhaben. Sie müssen profitabel wirtschaften. Mit der intensiven Produktion marktfähiger Kulturen. Gemüse und Hochertragssorten von Reis.“
Butzmann war zwar immer noch etwas mundfaul und seine verschränkten Arme signalisierten Distanz, aber immerhin hatte er jetzt schon mehr als einen Satz am Stück von sich gegeben. Ich tat so, als würde ich kurz über seine revolutionäre Idee nachdenken und gab mich dann beeindruckt. „Das ist sicher ein guter Ansatz. Eigentlich ganz logisch! Und eröffnet völlig neue Perspektiven. Gerade jetzt, wo auch noch dieses komische Unkraut Probleme macht. – Was ist da eigentlich los?“
Butzmann gab seine starre Körperhaltung auf und kratze sich unter den Achseln, wo sein Hemd untertassengroße Schweißflecken aufwies.
„Dieses Unkraut, ja.“ Er rieb sich die Hände an den Hosenbeinen ab. „Es überrascht mich nicht. Warum? Weil es die ganze Situation hier bestätigt. Die Felder werden nicht mehr ordentlich gepflegt. Es wird nur schlampig gejätet. Wenn man da nicht hinterher ist, wuchert alles zu. So ist das.“
„Und in ihren Reisfeldern da oben ist nichts?“
„Nein. Alles bestens.“
„Kommt ihre Frau eigentlich von hier aus der Gegend?“ erkundigte ich mich, damit der dünne Gesprächsfaden nicht abriss.
„Nein. Sie ist nicht von hier.“
Mein Elan flachte ab wie eine Welle am Strand. Alle Bemühungen, Butzmann in Plauderstimmung zu versetzen, liefen ins Leere. Einen letzten Versuch wollte ich aber noch unternehmen.
„Diese verschiedenen Sorten Gemüse, die sie hier anbauen. Zeigen Sie mir, was das alles ist? Sie sind ja der Experte.“
„Ich habe im Moment wenig Zeit.“ Butzmann hob den linken Arm und schaute auf sein Handgelenk, an dem sich aber keine Uhr befand. „Ich bin gerade erst von einer längeren Reise zurückgekommen.“
„Ach so, wo waren Sie denn?“, fragte ich dreist, um wenigstens noch eine interessante Information zu erhalten.
„Laos.“
Laos, so, so. Was er da wohl gemacht hat? Auf diese Frage wollte ich es jetzt nicht mehr ankommen lassen, um Butzmann nicht zu verstimmen. Das durfte ich im Moment noch nicht riskieren.
„Gut, Herr Butzmann. Dann will ich sie auch nicht länger aufhalten. Ich bin ja noch ein paar Tage hier, dann schaue ich einfach ein anderes mal wieder vorbei. Bis dann!“, kündigte ich an und vermied es, Butzmann die Hand zu reichen.
Da sich Frau Butzmann, weiter Setzlinge pflanzend, inzwischen zu weit entfernt hatte, um einen verabschiedenden Gruß noch in normaler Gesprächslautstärke übermitteln zu können, verzichtete ich darauf und wandte mich zum Gehen.
Das lief nicht besonders gut. Verdammt. Es war zwar klar, dass mein erster Besuch bei Butzmann nicht mit einer Blutsbrüderschaft enden würde, aber dass es so schwierig war, einen Zugang zu ihm zu finden, hatte ich nicht erwartet.
Vielleicht hätte ich ihm eine Kleinigkeit mitbringen sollen, eine Flasche Wein aus Deutschland oder so. Quatsch, dann hätte ja alles nicht mehr nach Zufall ausgesehen, fiel mir ein. Egal jetzt, ich musste mir etwas anderes überlegen. Ein Ansatzpunkt wäre vielleicht seine Frau. Wenn sie zum Einkaufen ging oder so, könnte ich mit ihr ein Gespräch anfangen, um auf diese Weise an weitere Informationen zu kommen. Eine große Aussicht auf Erfolg versprach das allerdings nicht, nach meinem Eindruck von ihr. – Nein, kann man vergessen.
Dann kam mir ein neuer Gedanke. Wie wäre es denn, wenn man Kitty darauf ansetzen würde. Genau. Gute Idee. Ich würde Butzmann noch einmal besuchen, dann aber mit Kitty im Schlepptau. Wenn es noch jemanden gelingen konnte, die Atmosphäre dort aufzulockern, dann ihr. Sie würde mit Sicherheit auch einen Draht zu seiner Frau bekommen, und die würde dann etwas zutraulicher werden. Meine Stimmung hellte sich wieder auf.
Ich war soeben in die Lodge zurückgekehrt, als mir mein Handy den Eingang einer SMS signalisierte. „Manuel, habe Neuigkeiten zum Unkraut. Komme mit Nachtbus, bis morgen früh, Erik“, lautete die Botschaft. Da kann man ja mal gespannt sein. Wenn sich Erik extra hier her bemühte, hielt er die Sache wohl für ziemlich bedeutend.
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