Mit einer ausschweifenden Handbewegung richtete Kitty meine Aufmerksamkeit auf das Tal. „Das meiste, was du hier siehst, ist kein Reis. Jedenfalls keiner, den die Bauern gepflanzt haben.“
„Wie bitte? Was denn sonst?“ Ich warf Kitty einen kritischen Blick zu. Was redete die da für ein Zeug?
„Das ist die große Frage. Es scheint irgendein Unkraut zu sein, das die Felder zuwuchert.“
„Die Felder zuwuchert, wie meinst du das?“, fragte ich vorsichtig.
„Es ist eine Art Gras, das sich überall in den Feldern ausgebreitet hat. Wenn es erscheint, wird der gepflanzte Reis nach kurzer Zeit gelb und stirbt ab. Das aufkeimende Gras sieht den Reissetzlingen zum verwechseln ähnlich, weshalb man es auch nicht so einfach herauszureißen kann. Abgesehen davon ist es dann für den Reis ohnehin schon zu spät. Die Bauern sind deshalb ziemlich verzweifelt. Manche versuchen jetzt, ihre Felder komplett zu jäten und nochmal ganz neu zu bepflanzen. Ob das was bringt, ist fraglich.“
Dann war die Reisfeld-Oma also doch nicht verrückt, dämmerte es mir. Und Kitty vermutlich auch nicht.
„Seit wann ist das schon so?“
„Das hat wohl letztes Jahr bereits angefangen. Allerdings waren da noch wenige Felder betroffen, und nur im unteren Teil des Tales. In der Brachezeit hat sich die Pflanze dann aber stark vermehrt und kommt jetzt fast überall vor.“
„Und jetzt willst du von mir wissen, ob ich eine Erklärung für das Ganze habe und ob man was dagegen tun kann.“
„Genau. Du bist doch Biologe und kennst dich mit solchen Sachen aus. Vielleicht weißt du ja, was hier los ist.“
Ich fühlte mich etwas schwach auf den Beinen und setzte mich auf die Deichkante. Kitty tat es mir gleich. „Also, zunächst mal“, begann ich nach kurzem Überlegen, „von einem Fall wie diesem habe ich noch nie etwas gehört. Natürlich gibt es in Reisfeldern, wie in anderen Feldern auch, eine ganze Reihe von Unkräutern, die allerdings kaum jemals so aggressiv sind. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es sich in diesem Fall um eine invasive Art handelt, also ein neu eingeschlepptes Unkraut aus einer anderen Region, das hier besonders günstige Existenzbedingungen vorfindet. Sowas kommt immer wieder vor. Zum Beispiel auch die Wasserhyazinthe. Die stammt ursprünglich aus Südamerika und wurde nach Südostasien eingeschleppt. Jetzt wuchert sie hier überall auf den Flüssen und Seen.“ Ich nickte vor mich hin. Diese Erklärung erschien mir schlüssig. „Aber das ist nur eine erste Vermutung“, stellte ich klar. „Ich würde mir das alles gerne noch genauer ansehen.“ Mein wissenschaftliches Interesse war geweckt.
„Das habe ich gehofft! Ich schlage vor, wir besuchen Joel. Er ist ein Bekannter von mir, bei dem ich heute Morgen schon war. Er hat mir das alles erzählt und kann sicher noch mehr dazu sagen.“
Als ich mich erhob, wurde mir schwarz mit roten Punkten vor Augen. Einen Moment lang hatte ich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten.
„Da geht’s lang.“ Kitty zeigte auf die mehrere Meter hohen, senkrecht abfallenden Lehmterrassen, die vor uns lagen. „Ich hoffe, du bist schwindelfrei.“
Nach etwa zwanzigminütigem Balanceakt auf den Deichen näherten wir uns einer kleinen Siedlung im Tal nahe dem Fluss. Zwischen Mangobäumen, Betelpalmen und Bananenstauden waren die pyramidenförmigen Dächer der kleinen, auf vier hohen Holzpfählen errichteten traditionellen Ifugaohäuser erkennbar. Die meisten Dächer waren aus Wellblech, aber es gab auch noch welche aus dem einst üblichen Schilfgras.
„Kitty, warte mal. Du solltest bei Joel bitte nicht den Eindruck erwecken, dass ich hier der große Experte bin. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken.“
„Keine Sorge. Lass mich nur machen“, erwiderte sie und drückte kurz ihre Schulter an mich.
Joel saß vor einem offenen Schuppen und bearbeitete einen mit einem Haumesser, landläufig Bolo genannt, einen Baumstamm. Ich schätzte sein Alter auf mindestens Fünfzig. Er trug ein ausgewaschenes, gelbes T-Shirt mit der Aufschrift ‚Bayer CropScience’ und dem Logo der Firma, eine kurze Sporthose und Tsinelas.
„Hallo Joel. Ich möchte dir Manuel aus Deutschland vorstellen. Er ist Biologe und interessiert sich für das Problem mit dem Unkraut.“
Joel hatte sich erhoben und begrüßte mich mit ausholendem Handschlag.
„Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte er aufgeräumt.
„Sind sie Bildhauer?“, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen und weil mir die archaisch anmutenden Holzskulpturen unter dem Haus neben der Werkstatt aufgefallen waren.
„Das ist mehr ein Hobby“, sagte Joel bescheiden.
„Joel ist Künstler. Er hatte auch schon Ausstellungen in Japan und Australien“, stellte Kitty klar.
„Ich orientiere mich an Figuren, die in der Religion und der Kultur der Ifugao Bedeutung haben und schon früher aus Holz gefertigt wurden“, erläuterte Joel, „wie zum Beispiel die Bulul, das sind die Reisgötter.“ Er zeigte auf eine Gruppe großer, menschenähnlicher Figuren in hockender Haltung. Ich fand sie sehr beeindruckend.
„Man könnte tatsächlich glauben, dass die derzeitige Situation eine Strafe der Reisgötter ist – dafür, dass sie sich nicht mehr gewürdigt fühlen, weil der traditionelle Reisanbau zunehmend an Bedeutung verliert“, sinnierte Joel. „Aber bevor wir darüber reden, essen wir erst mal was. Meine Frau hat einen Topf Süßkartoffeln auf dem Feuer, die dürften jetzt so weit sein. Kitty, besorgst du bitte mal die Teller?“ Sie nahm das Bolo, das ihr Joel hinhielt. Beide entfernten sich und ich sah mir in der Zwischenzeit die Kunstwerke genauer an.
„Setz dich, Manuel!“, rief Kitty. Auf dem Holztisch unter dem Haus stand ein Bambuskorb mit dampfenden Knollen, und an jedem Platz lag ein Stück des Bananenblattes, das Kitty besorgt hatte.
„Hier ist frisches Quellwasser.“ Joel brachte noch eine Plastikflasche und Gläser. Ich schnitt eine Süßkartoffel in Scheiben und bestreute sie mit Salz. Sie hatte einen köstlichen, unerwartet aromatischen Geschmack. Ich fühlte sich auf einmal sehr wohl und empfand sogar einen kleinen Moment des Glücks.
„Diese Süßkartoffeln sind eine alte Sorte und typisch für diese Region. Wahrscheinlich gibt es die woanders gar nicht“ erklärte Joel auf mein Lob des einfachen Mahles hin. „Früher waren sie hier das Grundnahrungsmittel der Familien, die keine oder nur kleine Reisfelder besaßen. Auch heute gelten sie noch als Arme-Leute-Essen und werden hauptsächlich als Schweinefutter verwendet. – Meine Frau hat übrigens gerade erzählt, dass sie dieses neue Unkraut auch in einem Süßkartoffelfeld entdeckt hat. Die frisch gepflanzten Setzlinge sind schon alle kaputtgegangen.“
„Weiß denn hier jemand etwas genaueres über diese Pflanze? Ist die neu hier oder gab es sie auch schon früher?“ griff ich das Thema auf.
Joel nickte. „Ich habe mich bei einigen alten Frauen erkundigt, die noch über ein großes traditionelles Wissen verfügen. Aber sie kannten die Pflanze nicht. Ein alter Ifugao-Priester hat jedoch behauptet, dass es sie hier früher einmal gab, allerdings ziemlich selten. Er bezeichnete sie als ‚wilden Reis’. An eine Situation wie diese kann aber auch er sich nicht erinnern. So etwas gab es demnach zumindest in den letzten sechzig Jahren noch nie.“
Ich dachte nach. „Mit solchen Pflanzen kenne ich mich leider nicht gut aus“, gestand ich ein, „aber ‚wilder Reis’ könnte alles mögliche sein. Vielleicht ist es wirklich eine Urform der kultivierten Sorten. Es kommen aber auch Arten in Frage, die mit den heutigen Züchtungen verwandt sind, oder andere Gräser, die den Reispflanzen ähnlich sehen. Es gibt ja zum Beispiel auch diesen so genannten Wildreis aus Nordamerika mit den langen, schwarzen Körnern. Das ist aber eine Grasart, die botanisch mit dem Reis hier nichts zu tun hat, sondern zu einer ganz anderen Gattung zählt.“
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