Auf der Straße durch den Ort kamen wir soeben an meiner Lodge vorbei. Es kann nichts schaden, wenn Kitty das weiß, dachte ich spontan und blieb stehen. „Hier hab ich mein Zimmer“, erklärte ich ihr und zeigte auf das Gebäude.
„Ach so? Ja dann gib mir doch das Päckchen“, sagte sie und zog mir selbiges aus der Hand, „ich komme sowieso am Marktplatz vorbei und kann es dann gleich abgeben. Okay, Manuel, schönen Abend noch!“ Sie sah mir lächelnd in die Augen, bevor sie sich abwendete. Genau wie gestern.
Scheiß-blödes Missverständnis, ärgerte ich mich immer noch, als ich unter der Dusche stand. Sie hatte wohl angenommen, dass ich mich mit meinem Hinweis für heute verabschieden wollte. Und ich hatte mal wieder nicht fix genug reagiert. Als ich es richtig kapierte, war sie schon weg.
Aber vielleicht hatte sie ohnehin schon etwas anderes vorgehabt, und ich war damit einer Abfuhr entgangen. Es wäre allerdings schon interessant zu wissen, wo sie eigentlich die Nacht verbrachte. Wahrscheinlich bei Bekannten oder Verwandten, weil es billiger war als in einer Lodge. Vielleicht aber auch bei einem Liebhaber, wer weiß. Womöglich dieser Joel, obwohl es dafür keine Anhaltspunkte gab. Ich hatte die beiden ja genau beobachtet.
An sich war es gar nicht mal so schlecht, wenn Kitty glaubte, dass ich den Abend allein verbringen wollte. Ich durfte schließlich auch nicht den Fehler machen, ihr wie ein Dackel hinterher zu laufen. Das würde schnell aufdringlich wirken. Sie könnte sich dann eingeengt fühlen und auf Distanz gehen.
So gesehen war das jetzt kein Unglück. Und nun konnte ich die gewonnene Zeit auch nutzen, um mir das weitere Vorgehen in Sachen Butzmann zu überlegen, mit den neuen Informationen. Aber zuerst würde ich noch eine Kleinigkeit essen gehen. Wieder mit mir im Reinen, drehte ich den Duschhahn zu.
Mit zwei Flaschen San Miguel-Bier kehrte ich vom Marktplatz zurück (die vage Hoffnung, Kitty noch einmal zu begegnen, hatte sich nicht erfüllt) und lümmelte mich aufs Bett.
Also: Welche Fakten hatte ich inzwischen? Ich wusste jetzt, wo Butzmann wohnte. Das war schon mal gut. Er hatte eine Versuchsfarm, an der die Bauern aber nicht sonderlich interessiert waren. Und er war öfters mal weg. – Was noch? Ich nahm einen Schluck Bier und rief mir das Gespräch mit Joel und Kitty in Erinnerung. Ich hatte zugeben müssen, dass ich Butzmann kannte. Hatte sich leider nicht vermeiden lassen. Außerdem hatte ich angekündigt, ihn besuchen zu wollen. Das war keine so gute Idee. Eine etwas voreilige Äußerung, die mir da herausgerutscht war.
Und was bedeutete das jetzt?
Es bedeutete, dass es jetzt nicht mehr so einfach war, heimliche Ermittlungen anzustellen. Die Verbindung zwischen mir und Butzmann war nun bekannt, zumindest Kitty und diesem Joel. Und ich konnte nicht davon ausgehen, dass es dabei blieb. Vor dem Hintergrund dieser Unkraut-Geschichte war es sogar ziemlich wahrscheinlich, dass es auch noch einige andere Leute mitbekamen. Beide, Kitty und Joel, hatten hier weit reichende Kontakte und würden garantiert herumerzählen, dass ich jetzt dieser Sache nachging. Und früher oder später würde es auch Butzmann zu Ohren kommen, der ja ebenfalls Umgang mit den Bauern hatte.
Mist. Aber das war schließlich nicht vorauszusehen.
Jetzt musste ich mir was Neues einfallen lassen. Über Butzmann würde ich ohnehin nicht viel mehr erfahren, als ich bereits wusste. Ich konnte ja schlecht die Bauern fragen, wo er sich herumtrieb, wenn er nicht da war. Das würde verdächtig wirken.
Ich leerte die erste Flache Bier, stellte sie auf den Fußboden, griff nach der zweiten und öffnete sie mit meinem Feuerzeug.
Dann würde ich die Sache eben genau anders herum aufziehen. Nämlich auf Butzmann zugehen, um ein gutes Verhältnis mit ihm herzustellen. Damit er von sich aus mehr über seine Aktivitäten erzählte, woraus sich weiteres ergeben könnte. Im Idealfall würden wir mal etwas Gemeinsames unternehmen, einen Ausflug in die Gegend oder so. Wenn wir uns erst einmal gut verstanden, könnte ich ja durchaus einen solchen Vorschlag machen. Als Biologe interessierte ich mich natürlich besonders für die unberührte Natur. Sicher, intakte Bergnebelwälder gab es hier noch, aber nicht mehr gleich um die Ecke. Sondern eher in den ganz dünn besiedelten Gegenden der Cordillera. Ich gebe dir recht, Walter, das ist nicht ganz ungefährlich. Wenn da was passiert, hilft uns so schnell keiner, und Rebellen soll es dort auch geben. Aber wenn man was Besonderes erleben will, muss man halt auch mal ein kleines Risiko auf sich nehmen.
Also gut. Dann würde ich Butzmann also einen Besuch abstatten. So, wie ich es Kitty und Joel ja auch gesagt hatte. Am besten gleich morgen. Keine Zeit verlieren. Wann? So am frühen Nachmittag, dann würde Butzmann mich vielleicht auf ein Tässchen Löskaffee einladen.
Ich folgte der staubigen, unbefestigten Straße, die eher einem Feldweg glich, und ging im Kopf noch einmal meine Strategie durch, die ich mir für die Begegnung mit Butzmann zurecht gelegt hatte. Ich wollte einen interessierten und tendenziell naiven Eindruck erwecken, um Butzmann das Gefühl zu geben, mir aus einer fachlich überlegenen Position heraus gegenübertreten zu können. Das würde er dann, so hoffte ich, zur Selbstdarstellung nutzen. Ich würde mich von seinen Ideen beeindruckt zeigen, kritische Äußerungen vermeiden und wenn es sein musste, ihn für seinen Schwachsinn auch noch loben. So könnte dann eine Basis für weitere Geselligkeiten geschaffen werden.
Butzmanns Haus lag auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Straße und war ein einfaches, aus grauen Hohlblocksteinen errichtetes Gebäude mit Wellblechdach. Es war offensichtlich neu und sollte wohl noch verputzt werden, vielleicht aber auch nicht. Ich stieg die steile, schmale Steintreppe hinauf und öffnete das niedrige Holztörchen zu dem Grundstück. Auf der spärlichen Grasfläche vor dem Haus tummelte sich eine Schar brauner Hühner mit ihren Küken. Da auf mein wiederholtes Klopfen an der Haustür keine Reaktion erfolgte, ging ich um das Gebäude herum. Auf dem leicht ansteigenden Gelände dahinter erstreckten sich bepflanzte und abgeerntete Gemüsebeete. Das Grundstück endete an einem steilen Hang, dessen unterer Bereich terrassiert und mit Reis bestellt war.
Die dunkelblonde Gestalt, die neben einer der Feldparzellen stand und gestikulierte, musste Butzmann sein. Die Filipina, die kniend irgendwelche Setzlinge in die Erde steckte, war wohl seine Frau. Ich ging auf die beiden zu und hoffte, sie nicht zu erschrecken, aber Butzmann sah mich bereits kommen.
„Guten Tag, Herr Butzmann.“ Ich erkannte ihn kaum wieder. Er war deutlich schlanker geworden, hatte längere Haare als früher und trug einen struppigen Vollbart. Sein Gesicht wirkte eingefallen, Pausbäckchen und Doppelkinn hatten sich aufgelöst. Das hellgrün-dunkelgrün karierte, kurzärmelige Hemd und die khakifarbene Leinenhose stammten wohl noch aus alten Zeiten und hingen jetzt mehr als lässig an seinem Körper. Auch seiner Goldrandbrille war er treu geblieben. Ob die billigen Plastiksandalen nur auf dem Feld seine nackten Füße schmückten oder den permanenten Ersatz für seine in Deutschland stets getragenen braunen Treter darstellten, wusste ich nicht, vermutete aber letzteres.
Butzmanns Frau schaute kurz auf und registrierte meine Anwesenheit, grüßte aber nicht. Sie war altersmäßig schwer einzuschätzen, wahrscheinlich aber etwa so alt wie ihr Gatte. Möglich aber auch, dass nur ihr mürrisches Gesicht mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln zu dieser Annahme verleitete.
Bereits aus diesen kurzen Eindrücken konnte ich meine ersten Schlüsse ziehen. Butzmann zeigte schon deutliche Anzeichen des so genannten Verbuschungssyndroms. Dieses stellt sich bei westlichen Wohlstandsbürgern zwangsläufig ein, wenn die Aufenthaltsdauer in einem exotischen Kulturkreis unter einfachsten Lebensbedingungen, speziell in abgelegenen Gebieten der Tropen, einen gewissen Zeitraum überschreitet. Der körperliche und seelische Abbau beginnt in der Regel mit Appetitlosigkeit, die durch die penetrante Einfalt der lokalen Nahrungsmittel und Speisen, gegen die sich allmählich eine Aversion entwickelt, hervorgerufen wird. Obwohl anfangs eine positive Einstellung und der Wille zur Anpassung bestehen, wird natürlich die Sitte der philippinischen Bevölkerung, morgens, mittags und abends Reis zu essen, an keinem einzigen Tag mitgetragen. Stattdessen wird zumindest das Frühstück mit Obst bestritten, was zwar gesund ist, auf Dauer aber keine echte Alternative zur gewohnten Bio-Müslimischung mit Milch, dem Fruchtjoghurt oder der deftigen Scheibe Vollkornbrot mit Käse, Wurst oder Marmelade darstellt und binnen weniger Wochen zu Frustration führt. Auch die Motivation, das selbst zubereitete Mittag- oder Abendessen mit hoher Kreativität abwechslungsreich zu gestalten, erlahmt wegen der in kürzester Zeit ausgereizten Möglichkeiten rasch, während der Wunsch nach Kartoffeln, Pizza, Spaghetti und schließlich selbst nach einer Dose Ravioli immer größer wird. In kritischen Phasen, die meist in Kombination mit anderen Widrigkeiten auftreten, wächst sich der Unmut über das Essen sogar zu einem richtigen Zorn aus, der wie bei einem Kleinkind zu einer trotzbedingten Nahrungsverweigerung ausarten kann und bei labilen Charakteren den Hang zur Selbstzerstörung offenbart, der konsequenterweise mit dem übermäßigen Konsum von Alkohol einhergeht.
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