‚Und das ist erst das Erdgeschoss‘ , dachte ich grimmig. ‚Wer weiß, was mich oben erwartet. Es wird Monate dauern, es einigermaßen instand zu setzen ... Was für eine erhellende Aussicht. Nun, es ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes vor.‘
Im Gegenteil. Das, was ich gar nicht brauchte, nie wollte oder gewollt hatte, besaß ich jetzt im Überfluss: Zeit.
Ich verschloss die depressiven Gedanken in einer hintersten Ecke meines Verstandes. Dabei ignorierte ich die stichelnde Stimme im Hinterkopf, die immer hartnäckiger wurde, seit ich aus dem Krankenhaus raus war.
Trotz der eifrigen Versuche sie mit Sprit, Pillen und Erinnerungen an bessere Zeiten zum Schweigen zu bringen, nervte sie mich mit ihren grausamen Spitzen. Giftige Pfeile, die sich in mich hineinbohrten, die schwärende Wunde in mir nährten und den Entschluss herbeigeführt hatten, in meiner Heimatstadt alles zusammenzupacken ...
Zumindest das, was übrig geblieben war, nachdem die Wohnung von denjenigen, die ich einmal Kameraden nannte, auf den Kopf gestellt worden war. Und genau deshalb stand ich jetzt mitten in diesem Fass ohne Boden, das mein Geld im Sekundentakt aus mir herauspressen würde.
Nie hätte ich gedacht, jemals aus Berlin wegzuziehen. Dort war ich geboren, es war meine Heimat. Der Ort, den ich mit jeder wichtigen Station meines Lebens verband. Meine Familie, Schule, Freunde, die Ausbildung bei der Polizei, Leo ... Ein Flimmern breitete sich hinter meinen Lidern aus und ich presste sie kurz zusammen.
‚Fuck! Nicht jetzt!‘
Krampfhaft konzentrierte ich mich darauf, weshalb ich hier war - nämlich für einen Neuanfang. Der lebendigen Großstadt zu entfliehen und in dieses gottverlassene Kaff im Hochsauerland zu ziehen, um die ungewollte Freizeit und den ganzen angestauten Frust dazu zu nutzen, ein baufälliges Haus zu renovieren. Mich mit soviel Arbeit zu ersticken, dass die schwarzen Schatten, die ihre Fühler nach mir ausstreckten, keine Chance bekamen, sich an mir festzukrallen und in den Abgrund zu schleudern.
Aber als ich jeden Schaden katalogisierte, der zu reparieren war und die Kosten überschlug, fragte ich mich, ob die Chirurgen der Charité vielleicht eine Kugel im Kopf übersehen hatten, als sie mich zusammenflickten. Denn ein gesunder Verstand schien dort definitiv nicht mehr zu sitzen.
Ich seufzte leise, ignorierte das mittlerweile eingesetzte bohrende Hämmern im Schädel und folgte der Maklerin folgsam, als sie mich wieder in die Eingangshalle führte. Doch als sie die breite Treppe anstrebte und die ersten Stufen hinaufstieg, blieb ich abrupt stehen. Fuck!
Da schaffte ich es keineswegs hinauf, nicht mit dem verfickten Knie in seiner derzeitigen Verfassung. Klar, wenn ich unendlich Zeit hätte, und meine Krücke, die dummerweise - nein, absichtlich - im Auto lag, kriegte ich es vielleicht mit viel gutem Willen bis morgen früh auf die Reihe.
Aber ich wollte verdammt sein, mich vor dieser Fremden als Krüppel zu outen. Wahrscheinlich würde sie mich mitleidig anschauen, mir ihre Hilfe anbieten und dann war ich gezwungen, mich zu erschießen. Was ohne meine Dienstwaffe vollkommen unmöglich war. Also nein. Die Treppe fiel aus.
Allein schon der Gedanke an Stufen sandte erneut gleißenden Schmerz durch meine zerschmetterte Kniescheibe. Beharrlich biss ich die Zähne aufeinander, um nicht zu brüllen. Nachdem der Krampf minimal abgeklungen war, humpelte ich zum Geländer, wo ich mich aufstützte. Das alarmierende Ächzen, als ich mein Gewicht daran lehnte, ignorierte ich geflissentlich. Ich räusperte mich.
„Frau Marquardt?“
Die Angesprochene unterbrach ihren Aufstieg und schaute auf mich hinab. Meine Miene musste einen Teil meines Innenlebens widerspiegeln, denn sie stöckelte sofort zu mir herunter.
„Ist etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Berger?“
Sollte das ein Witz sein? Ich ging auf die lächerliche Frage erst gar nicht ein, zwang mich zu einem freundlichen Hochziehen der Mundwinkel.
„Nein, nein, alles bestens. Ich bin nur der Meinung, wir können die Besichtigung hier beenden. Ich bin schon eine ganze Weile unterwegs und möchte noch in den Supermarkt, ehe er um sieben schließt“, flunkerte ich.
„Und außerdem“, ich stellte mein Guter-Junge-Lächeln an, das früher jeden Zeugen eingelullt hatte, „gehört mir die Hütte bereits. Es ist also überflüssig, sie mir erneut anzupreisen.“
Wie sämtliche Angehörige der Damenwelt schmolz die Maklerin schier dahin. Ihre Wimpern klimperten und sie legte mir eine Hand auf den Arm. Ich behielt das charmante Grinsen bei, obwohl jede Faser in mir danach schrie, die unerwünschten Gliedmaßen wie ein lästiges Insekt fortzuwischen. Die Berührung schien durch den Stoff zu brennen, löste ein unerträgliches Jucken aus. Ich hatte es noch nie besonders gemocht von Fremden angefasst zu werden, aber seit der Schießerei war eine regelrechte Manie daraus geworden. Wenn ich das Anfassen initiierte, gab es keine Probleme, doch anders herum ...
Nun streichelte sie mich wirklich, ein Gefühl, als krabbelten Ameisen über meine Haut, dabei berührten ihre Finger mit den feuerwehrrot lackierten Nägeln nur die Lederjacke, die ich trug.
„Natürlich, Herr Berger. Das ist mir bewusst. Es gehört jedoch zum Service unserer Agentur, den Kunden zufriedenzustellen - in jeder Hinsicht.“
Der Blick hinunter zu meinem Schritt war unübersehbar und mein Geduldsfaden spannte sich prekär. Angestrengt weiterlächelnd, ergriff ich die mich belästigende Hand und hielt sie einen Moment fest.
„Das ist beruhigend zu wissen, Frau Marquardt. Ich werde bestimmt darauf zurückkommen, wenn die Hütte hier über mir zusammenkracht.“
‚Und die Hölle gefriert.‘
Kurz entgleisten ihr die Gesichtszüge, doch sofort rutschte die professionelle Maske wieder darüber, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Keine Ahnung, was passiert wäre, hätte sie nicht lockergelassen ...
„Aber selbstverständlich, Herr Berger. Nun denn, willkommen in Hallenberg. Auf Wiedersehen.“
Sie war sichtlich pikiert, versuchte jedoch, ihren Unwillen zu verbergen, und drückte mir ein Schlüsselbund in die Hand. Höflich eskortierte ich sie zur Tür und atmete tief durch, als die Rücklichter ihres protzigen Mercedes um die Kurve verschwanden.
Ich rieb mir über die pochenden Schläfen, die dem kaputten Knie heute Konkurrenz machten und massierte dann mein steifes Genick. Dabei stieß ich auf gekräuselte Locken, was sich ziemlich ungewohnt anfühlte. In den vergangenen vier Monaten war ich so beschäftigt gewesen; erst in der Reha, danach hatte ich mich mit der Innendivision rumgeschlagen und letztendlich der Umzug ...
Ich seufzte. Ein Haarschnitt hatte da nicht auf der Agenda gestanden. Normalerweise trug ich meinen dunkelbraunen Schopf millimeterkurz, um den Pflegeaufwand auf ein Minimum zu reduzieren. Jetzt war das Haar lang genug, um sich über den Ohren und im Nacken zu kringeln, was sich wirklich seltsam anfühlte und vermutlich bescheuert aussah.
Großartig! Da musste ich sobald wie möglich in den Umzugskisten nach dem Haarschneider fahnden. Im Grunde war es aber auch egal. Ich war schließlich nicht in dieses Kaff gezogen, um irgendeinen Schönheitswettbewerb zu bestreiten.
Ich schnaubte unwillig bei solch sinnfreien Überlegungen und humpelte zu meinem Explorer. Dort warteten meine kärglichen Besitztümer darauf, in ihrem neuen Heim verteilt zu werden. Für einen Moment packte mich die Einsamkeit, die in den letzten Monaten mein ständiger Begleiter war, in einem unnachgiebigen Würgegriff. Ich schwankte, stieß mit dem lädierten Knie gegen ein Rücklicht und sah Sterne. Wieder einmal biss ich die Zähne aufeinander, um nicht vor Qual zu brüllen.
Fuck! Was hatten die Ärzte gesagt? Es ginge aufwärts? Deren Definition von aufwärts sollten sie mir mal erläutern. Schweißüberströmt hangelte ich mich zur Beifahrertür, zog sie auf und sackte auf dem Sitz zusammen. Nur einen Augenblick verschnaufen, dann zusammenreißen und weitermachen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben nur noch aus diesen drei Dingen bestand und ...
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