Treblow brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und einigermaßen zu verarbeiten, was die Stimme am anderen Ende der Leitung scheinbar ungerührt in wenigen sachlich nüchternen Worten von sich gegeben hatte: eine Frauenleiche, stark verstümmelt, entdeckt von einer Joggerin im Küstenwald. Trotz seiner Müdigkeit war ihm schlagartig klar, dass ihn der Beamte vom Kriminaldauerdienst, KDD, soeben zum Schauplatz eines Verbrechens von außergewöhnlicher Brutalität gerufen hatte. Pflichtgemäß informierte er umgehend die diensthabende Staatsanwältin, die Spurensicherung sowie die Bereitschaft des rechtsmedizinischen Instituts, ehe er die Nummer seiner Kollegin wählte, um auch diese zum Fundort zu beordern.
Elin Tarhan, eine athletische Brünette mit türkischen Wurzeln, bevorzugte sportlich legere Kleidung und legte wenig Wert auf Makeup, welches ihr hübsches Gesicht eigentlich auch gar nicht nötig hatte. Ihre Haare trug sie ziemlich kurz, weil ihr dies in ihrem Job einfach als das Praktischste erschien. Bereits als kleines Mädchen war sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und im damals noch eingemauerten Westteil Berlins aufgewachsen. Schnell war sie in ihrer neuen Umgebung heimisch geworden, sodass sich jegliche Debatte über Integration bei ihr von vornherein erübrigte. In der Schule hatte sie von Anfang an zu den Besten gehört und schließlich ein Eins-Komma-Sechser-Abitur gebaut. Dem Ruf einer inzwischen längst verödeten Liebe folgend, war sie gleich nach ihrem Studium an die Ostsee gezogen und hatte zunächst eine Zeitlang beim Kriminalkommissariat Wismar ihren Dienst versehen. Vor gut fünf Jahren war sie dann schließlich zu Treblows Team gestoßen und seither aus diesem nicht mehr wegzudenken. Wie kaum ein anderer, vermochte sie sich in die Psyche vermeintlicher Täter hineinzuversetzen und hatte damit schon so mancher zwischenzeitlich ins Stocken geratenen Ermittlung völlig neue Impulse verliehen. Sebastian schätzte Elin nicht nur als Kollegin, sondern vor allem auch als Mensch. Wann immer es Probleme gab, auf sie konnte er immer zählen. Gerade nach dem Tod seiner Frau hatte sie ihm beigestanden und sich als einer der wenigen wirklichen Freunde erwiesen. Dabei glich ihr eigenes Privatleben einer Achterbahn. Seit zwei, drei Jahren – ganz genau wusste sie das wohl selber kaum – lebte sie bereits von Martin, ihrem einstigen Lebensgefährten, getrennt. Allerdings war es ihr anscheinend unmöglich, ihn endgültig loszulassen. Phasen abgrundtiefster Abneigung, in denen sie ihn am liebsten sonst wohin verfluchte, wechselten regelmäßig mit unvermittelten, heftigen Liebescomebacks, welche üblicherweise zwar intensiv, jedoch meist nur von kurzer Dauer waren. Liebe und Hass wechselten zwischen den beiden wie Ebbe und Flut. Denis, ihr mittlerweile fünfzehnjähriger Sohn, mochte – wie es sich für einen pubertierenden Teenager gehört – den On-/Off-Mann im Leben seiner Mutter nicht sonderlich und gab sich wenig Mühe, seine Abneigung gegen ihn auch nur ansatzweise zu verbergen. Stattdessen hatte er seine Mutter in letzter Zeit immer häufiger mit Fragen nach seinem leiblichen Vater gelöchert, ohne ihr allerdings allzu viel über diese offenbar höchst unangenehme Episode ihrer Vergangenheit entlocken zu können. Infolge eines One-Night-Stands war sie bereits kurz nach dem Abi Mutter geworden und hatte ihre letzten Prüfungen mit einem scheinbar zum Platzen aufgeblähten Bauch absolviert, aber über den Erzeuger ihres Kindes nie ein Sterbenswort verloren. Der dunkle Teint und vor allem das leicht gekräuselte schwarze Haar des Jungen ließen diesbezüglich allerdings durchaus gewisse Spekulationen zu. Für Sebastian waren solche Dinge jedoch völlig uninteressant. Er achtete Elin als loyale Kollegin, schätzte sie als enge Vertraute und war in höchstem Maße dankbar für ihre aufrichtige Freundschaft. Welche Rolle spielte es da schon, welche ihrer Jugendsünden der Vater von Denis war.
Leiche – Küstenwald – Frau – entstellt – Joggerin ... – wie giftige Pfeile bohrten sich die Vokabeln ungeordnet und periodisch wiederkehrend in Treblows Gehirn, als er den Wagen anließ, welcher nur Sekunden später nahezu vollständig in seiner eigenen Abgaswolke zu verschwinden drohte. Die Straßen wirkten noch immer verschlafen und es herrschte kaum Verkehr. Eigentlich ein viel zu schöner Morgen, um einem Mord nachzugehen! , ging es ihm durch den Kopf. Wie Krebsgeschwüre zogen nacheinander die mittlerweile ganz schön in die Jahre gekommenen Satellitenstädte entlang der B 103 an ihm vorüber. Schon baute sich in der Ferne die Silhouette Warnemündes vor der Windschutzscheibe seines Wagens auf. Von weitem erfassten seine noch immer etwas verschlafenen Augen die weithin sichtbaren Umrisse des Neptun -Hotels sowie die leuchtend weiße Kugel auf dem Dach des Wetterturmes, in dem seit ein paar Jahren eine Jugendherberge residierte und in dessen Nähe sich vermutlich der Drehort eines fürchterlichen Verbrechens befand, zu dem man ihn vor einer knappen halben Stunde gerufen hatte. Fucking Perfect , dudelte es aus dem Autoradio, ohne dass Sebastian die Musik wirklich wahrnahm. Zu sehr kreisten seine Gedanken bereits vorab, um den gewiss nicht gerade appetitlichen Fund, der ihn in wenigen Minuten im nahegelegenen Küstenwald erwarten würde. Beinahe wie ein seelenloser Roboter trat er das Gaspedal viel zu weit durch und registrierte nicht einmal den Blitzer nahe der Abfahrt Lichtenhagen, jenen unbestechlichen Zeugen seiner geistesabwesenden Raserei. Bald schon waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zu einem Ziel, von dem er sich schon wenig später wünschen würde, es nie erreicht zu haben.
Der Kollege vom KDD, der ihn telefonisch über die grausige Entdeckung der morgendlichen Joggerin informiert hatte, erwartete ihn bereits, begrüßte ihn mit einem festen Händedruck, nannte seinen Namen und wiederholte die wichtigsten Eckdaten über den schrecklichen Fund nochmals im Telegrammstil. Sebastian nahm die schauderhaften Details beinah regungslos zur Kenntnis und quittierte sie, abgesehen von ein paar kurzen Zwischenfragen, mit einem gelegentlichen stummen Nicken. Elin, die wenige Augenblicke zuvor eingetroffen war, stand mit versteinerter Miene etwas abseits und hatte offenbar mit sich selbst zu tun. Die Kollegen von der Spurensicherung, wie der Erkennungsdienst im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist genannt wird, wuselten scheinbar planlos wie die Ameisen durch die Gegend, aber sicher wusste jeder einzelne von ihnen ganz genau, worin in solch einer Situation seine Aufgabe bestand. Hin und wieder ließen die Polizeifotografen die Blitze ihrer hochauflösenden Kameras aufflackern, um die furchtbaren Bilder unwiderruflich für die noch anzulegende Ermittlungsakte festzuhalten, und tauchten die Szenerie für Bruchteile von Sekunden in ein gleißendes Licht. Mittlerweile war auch Henriette Dörfel, die bereitschafthabende Staatsanwältin, eingetroffen. Sie mochte Mitte/Ende dreißig sein, sah aber deutlich jünger aus und war eine wahrhaft bildhübsche Erscheinung. Aufgrund der weichen Gesichtszüge, einer Körpergröße von gerademal einem Meter sechzig und ihrer äußerst schlanken Gestalt wirkte sie keinesfalls wie jemand, dessen Job darin bestand, Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen. Mit ihren langen, leicht gewellten, weizenblonden Haaren, die akkurat zu einem langen Zopf geflochten waren, und ihrem zarten Stimmchen hätte sie viel besser in jede Inga-Lindström-Romanze gepasst. Geduldig lauschte sie den Ausführungen der Beamten über den bisherigen Sachstand und bat sodann höflich aber bestimmend, über wichtige neue Entwicklungen kurzfristig informiert zu werden. Schließlich ließ sie es sich nicht nehmen, höchstpersönlich die Leiche in Augenschein zu nehmen. Aufgrund der vorangegangenen Schilderungen war sie ja auf einiges gefasst gewesen. Doch der Anblick, der sich ihr nun bot, überstieg selbst die allerschlimmsten Befürchtungen und traf sie wie ein gewaltiger Fußtritt in die Magengrube.
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