„ Tick tock on the clock …“ – hämmerten die letzten Töne geradezu erbarmungslos aus dem Radiowecker, ehe ihn Carsten Heinrich, als würde er mit der flachen Hand auf einen Buzzer schlagen, endlich verstummen ließ. Er fingerte die Packung Aspirin aus seiner Kulturtasche, torkelte mit noch halb geschlossenen Augen ins Bad, füllte kaltes Leitungswasser in ein unbenutztes Zahnputzglas und gab gleich zwei Brausetabletten hinzu. Gedankenversunken beobachtete er die aufsteigenden Bläschen, bis sich schließlich eine sprudelnde Lösung gebildet hatte, von der er inständig hoffte, dass sie seinem Brummschädel alsbald die dringend benötigte Linderung verschaffen würde. Mit zittrigen Händen griff er nach dem Gefäß, führte es bedächtig zum Mund und leerte es in einem Zug. Anschließend fuhr er sich ein paarmal lieblos mit dem Elektrorasierer über sein stoppeliges Kinn, putzte sich flüchtig die Zähne und entkleidete sich, um sodann unter der warmen Dusche die Spuren der zurückliegenden Nacht so gut es ging von seinem Körper abzuwaschen. Der wohltuende Wasserstrahl rann beinahe unaufhörlich seinen voluminösen Leib hinunter und holte ihn allmählich aus der Lethargie seiner trüben Gedanken zurück in die Realität. Eine gefühlte Ewigkeit später stand er im Bademantel auf dem Balkon seiner Suite und ließ die kühl-herbe Meeresluft in sich hineinströmen. Am Horizont wuchs langsam die Silhouette der aus Gedser kommenden Kronprins Frederic , einer nicht mehr so ganz taufrischen Vertreterin der Scandlines-Flotte, um schon wenig später die Moleneinfahrt zu passieren. Unter dem immer lauter werdenden Kreischen der Möwen erhob sich die Strandpromenade allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf.
Unsanft riss ihn ein schriller Geräusch-Potpourri aus seinem tiefen Traum. Tick, tack, tick, tack, brrrrrrrrr … Was ist das, wo bin ich ? Gerade so, als wäre es von seinen eigenen Klängen selbst erschrocken, vibrierte das Mobiltelefon in spastischen Zuckungen auf dem Nachttisch vor sich hin, was um diese verschlafene Zeit nichts Gutes verheißen konnte. Wie in Trance tastete seine Hand nach dem fiesen, kleinen Ungeheuer, während sich die Lautstärke der Glockenschläge wie von Geisterhand ins Unermessliche zu steigern schien. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, dieses gellende Time -Intro als Klingelton auszuwählen? Gelegentlich mochte dies ja durchaus ziemlich cool wirken, zu solch früher Morgenstunde allerdings nervte sogar Pink Floyd.
Seitdem er seine Frau vor gut zwei Jahren durch einen tragischen Autounfall verloren hatte, lebte Sebastian Treblow allein mit seiner bald vierzehnjährigen Tochter Melanie in dieser weitläufigen, für zwei Personen eigentlich viel zu großen Eigentumswohnung im Hansaviertel, einer sehr beliebten Wohngegend unweit der Rostocker Innenstadt. Auch den nahegelegenen Barnstorfer Wald mit dem Zoo konnte man von hier aus bequem erreichen. Als die Familie noch vollständig war, hatten sie dort vor allem an den Wochenenden viele schöne gemeinsame Stunden verbracht. Im Arbeitszimmer stapelten sich massenhaft Fotoalben und Videoaufnahmen als stumme Zeugen jener glücklichen Tage. Immer wenn die Trauer mal wieder gar zu heftig an die Tür zu seiner Seele klopfte, halfen ihm diese Erinnerungsstücke ein wenig über seinen Schmerz hinweg. Oft saß er dann bis spätabends mit Tränen in den Augen zwischen den bildhaften Relikten seiner einstigen großen Liebe. Und dann folgte wieder mal eine dieser nicht enden wollenden schlaflosen Nächte, in denen er sich bis zum Morgengrauen von einer Seite auf die andere wälzte und seine Hand nach der anderen Betthälfte griff, um dort nur eines zu spüren: eine kalte Leere, die sich anfühlte wie ein abgetrenntes Körperglied. Manchmal schien es, als hätte er sie gerade gestern erst verloren.
Während seiner jugendlichen Sturm- und Drangzeit war er ein wahrhaftiger Weiberheld gewesen. Meist genügte ein müdes Fingerschnippen, und die heißesten Bräute lagen ihm zu Füßen und bald schon in seinem Bett. Bis zu jenem Tag, an dem Jana seinen Weg kreuzte. Mit ihren langen, rotblonden Haaren, den leuchtend blauen Augen und ihrer Wahnsinnsfigur sah sie unverschämt gut aus und sollte sein Leben ein für alle Mal verändern. Sie war ihm auf der Geburtstagsparty eines Freundes begegnet und hatte – wie konnte es anders sein – im Handumdrehen seine männlichen Instinkte geweckt. Schnell hatte er sie als Opfer für die kommende Nacht auserkoren und genau so hemmungslos wie selbstgefällig angebaggert. Aber sie hatte ihn eiskalt abblitzen lassen, damit jedoch erst recht seinen Jagdtrieb geweckt. Sie war die erste Frau gewesen, um die er richtig kämpfen musste. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war sie auch die erste, die er wirklich mit jeder Faser seines Herzens liebte und nicht nur körperlich begehrte. Am 7.7.1997, einem witterungsmäßig eher durchwachsenen Sommertag, gaben sie sich das berühmte Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein, bis dass der Tod euch scheide , ohne zu ahnen, dass dieser sein unheilvolles Werk weit früher als erwartet auf so grausame Weise vollenden würde. Dennoch hatten sie ihre gemeinsame Zeit mit größter Intensität gelebt. Schon kurz nach ihrer Heirat waren sie nach Rostock gezogen und hatten sich hier von Anfang an wohl gefühlt. Für Sebastian war der Wechsel in den Osten mit einem gewaltigen Sprung in seiner beruflichen Karriere verbunden, auf den er ansonsten noch viele Jahre oder womöglich gar bis in alle Ewigkeit vergebens hätte warten müssen. Nicht wenige seiner neuen Kollegen hatten ihre Polizeilaufbahn in der einstigen DDR begonnen, sodass ihre damit oftmals beinahe zwangsläufig verbundene politische Vergangenheit irgendwann einem weiteren Aufstieg auf dem Boden der Demokratie nach westlichem Verständnis entgegenstand. Dementsprechend war der Eindringling von drüben hier zwar nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen worden, hatte sich aber vor allem aufgrund seiner außergewöhnlichen kriminalistischen Kombinationsgabe schon bald Achtung und Respekt erworben. Selbst in schwierigsten Situationen blieb er hochkonzentriert und immer auf das Wesentliche fokussiert und erwies sich bereits nach kurzer Zeit als echter Gewinn für sein neues Team. Da auch Jana einen gutbezahlten Job in einem Pharmaunternehmen bekleidete, konnten sie sich so manchen Traum erfüllen: zwei schnittige Mittelklassewagen, unvergessene Reisen in ferne Länder und nicht zuletzt diese geräumige, stilvoll möblierte Maisonettenwohnung mit einem fantastischen Panoramablick über die Stadt. Mit der Geburt von Melanie vor inzwischen fast vierzehn Jahren schien ihr Glück vollkommen. Inzwischen war sie zu einem ausgesprochen hübschen Teenager herangereift, der sich mit unübersehbar großen Schritten langsam aber sicher zu einer attraktiven jungen Frau entwickelte. Schon seit geraumer Zeit drehten sich die Männer immer häufiger nach dem hochgewachsenen, schlanken Mädchen mit seinen langen, leicht rötlichen Haaren und den sinnlichen blauen Augen um. Ihr und vor allem ihrem Vater waren diese Blicke auf die Dauer natürlich nicht verborgen geblieben, und es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Jungs bei ihr Schlange stehen würden. Anders als die frühreife Julia aus ihrer Klasse hatte sie allerdings mit dem anderen Geschlecht bisher nicht allzu viel am Hut gehabt. Wenn da nicht dieser große Blonde gewesen wäre, Nils aus der Neunten, der bei Hansa in der B-Jugend trainierte. Schon ein paarmal hatte er sie auf dem Schulhof angelächelt, doch sie war seinen Blicken stets mit puterrotem Gesicht ausgewichen. Eigentlich fand sie ihn ja ganz süß, und immerhin hatte sie begonnen, sich für Fußball zu interessieren, was ihr ohne ihn vermutlich niemals in den Sinn gekommen wäre. Den frühen Verlust ihrer Mutter schien sie – so wirkte es zumindest nach außen hin – ziemlich gut weggesteckt zu haben. Freilich konnte niemand wissen, wie es in den Hinterzimmern ihrer Seele aussah. Schließlich war ihr die wichtigste Bezugsperson von einem Tag auf den anderen auf tragische Weise abhanden gekommen, was gerade für ein Mädchen in der Pubertät, jener unberechenbaren Phase zwischen körperlicher Wandlung und seelischer Aufbruchsstimmung, ein besonders schwerwiegender Verlust sein mochte.
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