Was ist das? Was passiert mit mir? Kalter Stahl schiebt sich wie eine Todeskralle unter mein trotz der Eiseskälte vor Angst verschwitztes T-Shirt, zieht dessen klammen Stoff immer fester an meinen Leib und teilt es schließlich mit einem ruckartigen Schnitt in zwei ausgefranste Hälften. Meine Augen erahnen die Konturen von etwas, das nichts Gutes verheißt und sich schon im nächsten Augenblick wie ein Pfeil in meine linke Brust bohrt. Es tut höllisch weh, so unglaublich weh. Ich spüre einen Schmerz, so stark, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gespürt habe. Ich will schreien, so laut, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben getan habe. Aber dieses beschissene Stück Stoff in meinem Mund hindert mich daran. Ich winde mich hilflos auf meiner harten Unterlage, ich versuche es zumindest, aber das Plasteband ist gnadenlos und unnachgiebig und lässt kaum die kleinste Bewegung zu. Wie besessen zerre ich an den Ketten meines Martyriums, will sie abschütteln, mich befreien. Aber alle Mühe ist vergebens. Was soll das? Was geschieht hier mit mir, und warum? Während ich noch nach Antworten suche, dringt die scharfe Klinge bereits ein weiteres Mal in das empfindsame Fleisch. Ich könnte mich krümmen vor Schmerzen, aber die Fesseln erlauben es mir nicht. Ich will mir die Seele aus dem Leib schreien, aber durch diesen widerlichen Fetzen bleibt mir selbst der kleinste Laut im Halse stecken. Meine Hilflosigkeit macht mich wahnsinnig. Langsam spüre ich, wie mehr und mehr die Kraft aus meinem Körper weicht. Mir wird schwarz vor Augen, und ich versinke in der Dämmerung. Bin ich jetzt tot, endlich erlöst?
Was ist das? Wasser, eisiges Wasser in meinem Gesicht. Ein kalter Schauer überkommt mich und holt mich ins Leben zurück. Zurück in ein Leben, mit dem ich eigentlich schon abgeschlossen hatte. Warum lässt man mich nicht einfach sterben? Allmählich wird mir klar, weswegen man mich zurückgeholt hat. Ich will es nicht glauben und kann es nicht fassen: Ich soll leiden, unendlich leiden, und jedes grausige Detail meines eigenen beschissenen Endes haarklein mitbekommen. Nur deshalb bin ich zurück in jener Welt, von der ich glaubte, sie bereits verlassen zu haben. Aber will ich überhaupt zurück? Eine spitze, scharfe Klinge teilt meinen Slip mit einer ruckartigen Bewegung in zwei ungleiche Dreiecke und legt meine Scham frei. Warum nur um alles in der Welt musste ich mich unbedingt dort unten rasieren? Andere lassen wenigstens einen schmalen Streifen stehen, aber er wollte es so – und das habe ich nun davon. Jetzt fühle ich mich nackter als nackt, meiner allerletzten Würde beraubt. Aber meine Angst ist noch viel stärker. Was passiert nun? Werde ich jetzt vergewaltigt? Ich fühle mich ausgeliefert und hilflos. Was kommt wohl als Nächstes? Ich schwanke zwischen MUSS ICH JETZT STERBEN ODER DARF ICH WEITERLEBEN und DARF ICH JETZT STERBEN ODER MUSS ICH WEITERLEBEN, tendiere aber mehr und mehr zu letzterem. Die Ungewissheit ist grausam. Plötzlich – ein teuflischer Schmerz. Erbarmungslos frisst sich das Messer in meinen Unterleib und droht dort nahezu alles zu zerstören, was die Frau in mir ausmacht. Mir ist, als würde mich eine gewaltige Explosion in tausend Stücke zerreißen. Ich habe das Gefühl, zweigeteilt zu werden. Es tut so unheimlich weh. Das muss die Hölle sein. Nein, das IST die Hölle. Ich rieche den grässlichen Gestank von Blut, Folter und Tod und werde wahnsinnig vor Schmerzen, ehe ich erneut das Bewusstsein verliere.
Wieder eiskaltes Wasser auf meiner geschundenen Haut. Das Leben will mich noch immer nicht gehen lassen. Warum eigentlich? Lass mich doch endlich los! Etwas großes Klobiges drückt von beiden Seiten gegen meinen Kopf und macht selbst die kleinste Bewegung unmöglich. Mir ist, als würde jeden Augenblick mein Schädel bersten. Ich spüre, wie sich rasiermesserscharfes Metall gnadenlos in meine Gesichtshaut frisst. Ein warmes, blutiges Rinnsal strömt über meine Wangen. Ich spüre, wie dicke Tropfen auf die Unterlage prasseln. Die Schmerzen sind eine einzige, unvorstellbare Marter. Warum muss ich all das hier ertragen? Warum darf ich nicht einfach sterben, endlich sterben, wenn du mich schon nicht am Leben lassen willst? Ich blicke in das gesichtslose Gesicht unter der schwarzen Kapuze. Die hässliche Fratze des Todes, für Sekundenbruchteile sehe ich sie unerwartet klar und deutlich. Doch schon im nächsten Moment beginnen die Bilder zu verschwimmen. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, registriere lediglich den kalten, geschliffenen Stahl in meinen Augenhöhlen – erst rechts, dann links. Ich leide Höllenqualen. Zum ersten Mal in meinem Leben bete ich zu jenem Gott, an den ich bisher nicht so recht glauben mochte. Und diese Erfahrung dürfte es mir kaum leichter machen, meine gepeinigte Seele in seine Hände zu legen. Gütiger Herr, weshalb lässt du das zu? Warum erlöst du mich nicht und lässt mich endlich zu dir?
Plötzlich ist es still. Unendlich tiefe Nacht umgibt mich wie ein schwerer Vorhang. Ich sehe ein Schwarz, so dunkel, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Alles um mich herum ist stockfinster und bitterkalt. Ich tauche ab in einen Traum, aus dem ich am liebsten nie mehr erwachen möchte. Habe ich es geschafft? Bin ich endlich erlöst? Bin ich frei? Aber es ist noch immer nicht vorbei. Wieder werde ich unsanft zurückgeholt. Das Wasser fühlt sich noch ein paar Grad kälter an, als zuvor. Warum nur, warum? Was soll ich noch in diesem Leben? Ich habe keine Augen mehr, keine Brüste, keine Weiblichkeit. Bitte lass mich endlich gehen, für immer, endgültig – bitte, bitte, bitte. Ich flehe innerlich, weil ich fühle, dass mein geschundenes Wesen keinen Schmerz mehr erträgt. Ich bettle nur noch um den Tod. Obwohl ich nichts sehen kann, spüre ich, dass jemand in meiner unmittelbaren Nähe ist. NUN TU ES ENDLICH, ERLÖSE MICH! Eine Salve aus gefühlten tausend Messerstichen prasselt wie Dauerfeuer aus einem Maschinengewehr auf meinen geschredderten Körper nieder, welcher eigentlich längst schon nur noch ein lebloser Torso ist. Es ist das große Finale furioso, und ich bin dankbar dafür, dass es bald vorbei ist und ich endlich sterben darf. Nur noch ein paar Stiche, dann bin ich erlöst.
…
Stille, unendliche Stille. Es ist vollbracht, ich habe es geschafft. Endlich. Ich empfinde Erleichterung und Glückseligkeit. Eine wohlige Wärme legt sich wie ein zarter Schleier auf mein Gesicht. Um mich herum ein Meer aus Blumen. Es sind wunderschöne Blumen, unendlich viele Blumen, ein einzigartiger, bunter Teppich. Unvorstellbare Formen, nie zuvor gesehene Farben. Das muss es sein, das Jenseits. Ich bin angekommen. Endlich bin ich auf der anderen Seite. Ich spüre keine Schmerzen mehr, atme die Luft grenzenloser Freiheit. Meine Haut ist glatt und rein. Die Fesseln sind verschwunden. Ich kann meine Arme und Beine bewegen, stehe auf und setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Mein offenes Haar glänzt seidig. Goldblonde Engelslocken umspielen sanft meine nackten Schultern. Ich trage ein langes, weißes Kleid mit dünnen Trägern, das Kleid der Unschuld. Ich bin im Paradies. Ich bin frei, für immer frei.
Samstag, der 26. Januar 2013
Nathalie Hartung, eine attraktive Mittdreißigerin mit knackigen weiblichen Rundungen, gehörte zu jenen Frauen, nach denen sich die Männer, ob sie wollten oder nicht, beinahe zwanghaft umdrehten. Sie hatte einen leicht südländischen Teint, rehbraune Augen und einen sinnlichen Mund. Die pechschwarz gefärbten langen Haare erinnerten ein bisschen an eine Indianerin. Das leuchtende Weiß ihrer Zähne, welche sie regelmäßig bleichen ließ, bildete einen auffälligen, fast etwas unnatürlichen Kontrast zu ihrer solariumsgebräunten Haut. Es war nicht zu übersehen, dass sie sehr viel Wert auf ihr Äußeres legte und offenbar bereit war, hierfür so manchen Euro hinzublättern.
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