Es war neblig und ungemütlich kalt. Die Temperaturen lagen auf Gefrierschrankniveau und von der See blies ein eisiger Wind hinüber. Nur die Lichtkegel der Straßenlaternen lockerten aller paar Meter die gespenstische Szenerie ein wenig auf. Die erhellten Fenster der umliegenden Häuser wirkten wie hinter einem Schleier verborgen und spuckten ab und an einen Fetzen Behaglichkeit auf die verwaisten Gehsteige. Wie sehr beneidete sie in diesem Augenblick die Menschen, die dahinter in ihren wohlig warmen Stuben beim Abendessen oder vor dem Fernseher saßen oder sonst etwas taten. Der Streit mit Pacholski hatte ihr mächtig zugesetzt. Er wird bezahlen, so oder so, sonst mache ich ihn fertig. Und doch waren seine Zweifel nicht unangebracht, schließlich war sie sich selbst nicht hundertprozentig sicher, wer der Vater ihres Kindes war. Womöglich war es tatsächlich Jonas, aber ebenso gut konnte es eben auch Alex sein, oder Lucas oder, oder, oder…? Egal, sie war felsenfest entschlossen, ihrem Chef das Baby anzudrehen. Obzwar um einiges älter, war er nicht nur optisch, sondern vor allem auch in materieller Hinsicht ein überaus attraktiver Mann. Und sie war sich absolut sicher, ihn in der Hand zu haben. Immerhin war sie noch minderjährig gewesen und hatte gerade mit ihrer Lehre begonnen, als er sie das erste Mal auf dem wuchtigen Schreibtisch in seinem verräucherten Büro flachgelegt hatte. Es war gewissermaßen ihre erste Lektion gewesen, eine Lektion freilich, die so ganz sicher nicht in der Ausbildungsverordnung stand. Überdies sollte ihn die schleichende Angst, seine Frau könnte ihn womöglich verlassen, wenn sie von seiner vermeintlichen Vaterschaft Wind bekäme, früher oder später schon zur Einsicht bringen. Immerhin lebten die beiden in Gütertrennung, sodass ihm im Falle einer Scheidung nichts weiter als seine noch immer hochgradig kreditverschuldete Praxis geblieben wäre. Es wäre wohl das unweigerliche Ende seines geliebten Luxuslebens gewesen. Lautstark und wild gestikulierend hatte sie ihn eben noch an diesen für ihn äußerst bitteren Sachverhalt erinnert, ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage schmerzlich vor Augen geführt und zur Krönung eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie konnte wahnsinnig zärtlich sein, wenn sie liebte, aber nicht minder grausam, wenn sie hasste. Manchmal sind Liebe und Hass wie Bruder und Schwester.
Jetzt träumte sie nur noch von einem heißen, entspannenden Bad, um die Spuren des dahinscheidenden Tages von ihrem Körper abzuwaschen. Anschließend würde sie sich auf den Weg zu Jasmin begeben, um morgen in aller Frühe gemeinsam mit ihr nach Berlin aufzubrechen. Sie freute sich schon auf das geplante Programm: Shoppen, ein bisschen Sightseeing und dann in einem der angesagtesten Technoclubs Abtanzen bis tief in die Nacht. Sie war völlig in ihren Gedanken versunken und hatte das Auto erst gar nicht bemerkt, das wenige Meter vor ihr am Straßenrand stoppte. Aus dem Auspuff stiegen dicke Abgasschwaden auf, und die Bremslichter durchschnitten die Dunkelheit mit ihrem kräftig leuchtenden Rot. Im ersten Moment beschlich sie ein ungutes Gefühl, und sie spürte ihren immer schneller werdenden Herzschlag bis zum Hals hinaufsteigen. Latente Angst schwebte über ihr wie eine Gewitterwolke, die drohte, jeden Moment ihren Inhalt zu entleeren. Für einen kurzen Augenblick erwog sie, auf dem Absatz kehrt zu machen, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder, als ihr ein vertrautes Gesicht durch das heruntergelassene Beifahrerfenster entgegenblickte.
„Okay“, antwortete sie kurz und bündig, als eine vertraute Stimme ihr anbot, sie mitzunehmen. Ein paar Minuten nur noch und sie würde in ihrer Badewanne liegen und den Tag mit all seinen Strapazen und Ärgernissen endlich hinter sich lassen. Als sie die Wagentür öffnete, blies ihr eine angenehme Wärme entgegen, ein wohltuender Kontrast zu der Eiseskälte, der sie sich eben noch schutzlos ausgeliefert sah. „Danke, dass …“ Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Wie aus dem Nichts umklammerte sie plötzlich eine gummibehandschuhte Hand, um ihr ein ekelhaft feuchtes, beißig riechendes Etwas auf den Mund zu pressen. Ein herber, brennender Geruch bohrte sich wie ein vergifteter Pfeil in ihre Nase, und ehe sie die Situation erfassen konnte, spürte sie bereits ihre Sinne schwinden. Verzerrte Bilder und merkwürdige Gestalten vollführten einen wilden Tanz vor ihren Augen, und alles um sie herum schien sich im Kreis zu drehen. Bis es schließlich dunkel wurde und ihr Bewusstsein in einer stockfinsteren, schwarzen Materie versank …
Was ist das hier? Was ist passiert? Ein penetrant süßlicher Geruch hat sich in meiner Nase festgebissen. Wie ein bösartiger Tumor hat er schleichend Besitz von mir ergriffen. Ich will ihn abschütteln, aber ich werde ihn nicht los. Ich bin müde, so unglaublich müde, todmüde. Ich fühle mich wie erschlagen, und womöglich bin ich das ja auch bereits. Lebe ich noch, oder bin ich vielleicht schon tot? Irgendetwas trommelt erbarmungslos wie tausende spitze, kleine Hämmerchen von innen gegen meine Schläfen. Mein Kopf droht vor Schmerzen zu zerspringen. Mir ist speiübel. Das ist für den Moment zwar nicht gerade schön, verrät mir aber, dass ich offenbar doch noch am Leben bin. Denn wäre ich tot, wäre mir ja wohl kaum noch übel. Außerdem haben Tote für gewöhnlich kein Kopfweh. Ich will nach Hilfe rufen, aber dieser ekelhafte Stoffballen in meinem Mund macht es mir unmöglich. Wer will, dass ich nichts sagen und nicht um Hilfe rufen kann? Was geschieht hier? Was habe ich mir zuschulden kommen lassen, dass man mich hier festhält? Wofür soll das gut sein? Wo bin ich gerade? Ich kann nichts sehen, kann meine Augen nicht öffnen. Jemand hat sie so fest verbunden, dass sie schmerzen. Wer will, dass ich nichts sehen kann? Alles um mich herum ist in ein tiefes, surreales Schwarz getaucht. Stockfinstere Nacht. Der Tod kann kaum dunkler sein.
Was passiert mit mir? Ich spüre unbarmherzige Kälte. Ich bin hilflos, so gut wie nackt, trage nur ein ärmelloses Top und meinen Tanga. Prompt hasse ich diese viel zu knappen Dinger und wünschte sehnlichst, ich stünde auf Liebestöter. Ich werde mir neue Unterwäsche zulegen, wenn das hier vorbei ist. Falls das hier irgendwann vorbei gehen sollte. Aber wenigstens habe ich noch Hoffnung, dass das hier irgendwann vorbeigehen könnte, also muss ich ja wohl am Leben sein. Irgendjemand hat mich auf einer metallisch kalten, harten Unterlage fixiert. Ich fühle mich wie in einem Gefrierschrank gefangen. Ich bibbere mir die Seele aus dem Leib, und es kommt mir vor, als würden sich in meinen Adern allmählich Eiswürfel bilden. Mein Blut droht jeden Augenblick zu einer festen, kalten Masse zu erstarren. Was hat man mit mir gemacht? Breite Fesseln ziehen sich fest wie Schraubzwingen über meinen Bauch und meinen Brustkorb. Sie sind straff, so straff, dass ich nur mit Mühe atmen kann. Ich japse nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber genau deshalb bin ich jetzt sicher, dass ich noch lebe. Denn wäre ich tot, bräuchte ich ja schließlich nicht mehr zu atmen. Ich will meine Arme heben, doch ein gewaltiger, unüberwindbarer Widerstand hält sie fest an ihrem Ort. Ich möchte aufstehen, fortlaufen, aber meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich kann sie nicht bewegen, nicht einen Millimeter, nicht mal einen Nanometer. Meine Schenkel sind so weit gespreizt, dass es sich anfühlt, als würde es mir jeden Moment die Hüften sprengen. Wo bin ich hier? Was hat man mit mir vor?
In der Ferne höre ich Schritte, spüre, wie etwas näher kommt und schließlich eine Tür geöffnet wird. Eine ungute Vorahnung überkommt mich wie ein eiskalter Schauer. Mein Herz rast wie ein ICE, mein Puls schlägt bis hoch zum Hals, und meine Schläfe pulsiert beinahe im Zehntelsekundentakt. Ich habe unbändige Angst, aber die Fesseln um meinen Körper sind so furchtbar eng, dass ich nicht mal richtig zittern kann. Ich will mich losreißen, um zu fliehen. Doch es ist aussichtslos. Ich komme hier einfach nicht weg, wahrscheinlich niemals mehr, jedenfalls nicht in diesem Leben. Wer nur in Gottes Namen tut mir so etwas Schreckliches an? Warum liege ich hier – geknebelt, ausgeliefert, gepeinigt und wehrlos? Plötzlich wie aus dem Nichts berührt mich eine Hand. Ist es eine helfende oder eine böse? Sie macht sich an meinem Gesicht zu schaffen. Will sie mich befreien, oder will sie mir wehtun? Sekundenbruchteile später werde ich von einem grellen Schein geblendet. Tausend Blitze schlagen wie Tornados auf meiner Netzhaut ein; ein anhaltendes Dauerfeuer unvorstellbarer Schmerzen. Das gleißend weiße Licht droht meine Augen zu verblitzen. Aber endlich hat die Dunkelheit ein Ende. Ich kann wieder sehen und sehe doch nichts. Langsam, ganz langsam kann ich verschwommene Umrisse und rätselhafte Schatten erkennen. Wie eine schwere Gewitterwolke baut sich allmählich die Silhouette einer finsteren Gestalt über mir auf. Sie trägt eine wehende, schwarze Mönchskutte mit weiter Kapuze und spricht kein Sterbenswort. Das Gesicht ist hinter einer furchteinflößenden, undurchsichtigen Maske verborgen. Sieht so etwa der Tod aus? MEIN Tod?
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