Er überlegt kurz.
„Ja, aber vielleicht hat sie es nicht verstanden. Oder sie kann tatsächlich nicht lauter sprechen. Vielleicht kann sie dir dann aber mit Gesten oder noch besser mit einer geschriebenen Botschaft klarmachen, was sie von dir will.“
„Ich könnte es versuchen“, meinte Cornelia. „Vielleicht sollte ich -. Das ist doch Blödsinn. Sie wird kaum Zettel und Stift von mir verwenden können, schließlich ist sie ein Geist.“
„Vielleicht gibt es Schreibutensilien für Geister“, überlegte Theo und bei jeder anderen Gelegenheit hätte er diese Vermutung spöttisch klingen lassen, doch jetzt versuchte er, seinen Worten einen ernst gemeinten Unterton zu verleihen. „Mach ihr den Vorschlag.“
Cornelia sah nicht so aus, als wäre sie von dieser Idee überzeugt. Sie litt unter ihrer Hilflosigkeit. Wie sollte man mit Geistern umgehen? In diesem Augenblick fühlte sie sich sehr unglücklich. Und Theo litt unter einem wachsenden schlechten Gewissen. Er versuchte, mit Rücksicht auf seine Freundin Lösungen für ein Problem zu finden, das er nicht ernstnahm: Geister, die ihnen eine Botschaft übermitteln wollten. Cornelia hatte so etwas zwar schon mehrmals angedeutet, aber aus seinem Mund konnte eine solche Vermutung unmöglich ernstgemeint sein, schließlich gab es keine Geister, also gab es auch keine Mitteilungen von Geistern, oder etwa doch? Er weigerte sich, daran zu glauben, aber er begann, sich umso mehr Sorgen um seine Freundin zu machen. Sie war nicht verrückt, aber wenn sie Dinge sah, die andere nicht sehen konnten, dann war das nicht normal. Und wenn sie Dinge spürte, die andere nicht spürten, war es genauso wenig normal. Aber was konnte er tun? Er empfahl Cornelia behutsam, zu einem Psychologen zu gehen. Dieser Vorschlag war aber kaum ausgesprochen, da war ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte.
„Spinnst du!“, fuhr sie ihn ärgerlich an. „Zu einem Seelenklempner? Die werden doch selbst mit ihrem Leben nicht fertig. Und ich finde es ziemlich mies von dir, wenn du behauptest, ich spinne. Ich denke mir das alles doch nicht aus, verdammt!“
Theo wusste, dass er sich nicht sehr taktvoll ausgedrückt hatte, aber das lag nur daran, dass er sich absolut hilflos fühlte und nicht wusste, wie er Cornelia helfen konnte. Das akzeptierte sie zunächst als Entschuldigung.
„Ich glaube, du liegst in deinen Ansichten ziemlich daneben“, meinte Cornelia, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Und wenigsten in einem Punkt könnte ich dir das beweisen, wenn du dabei gewesen wärst. Du hättest sehen sollen, wie das Paar auf den alten Mann reagiert hat, wie es ihm aus dem Weg gegangen ist, ohne ihn offenbar zu sehen, und wie sie die gleiche Kälte spürten wie ich. Das war eine objektiv feststellbare Reaktion auf ein unsichtbares Ereignis. Also, selbst wenn vielleicht nur ich das Mädchen, den Mann und den Schatten sehen kann, reagieren doch auch andere darauf. Und gib es endlich zu, du hast es im Schlafzimmer auch getan, auch wenn du anscheinend nichts mehr davon wissen willst.“
Das war ein Argument, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Und sie hatte Recht, wenn sie behauptete, dass er versuchte, es zu verleugnen.
„Schon gut, ja, es ist wahr. Ich versuche, es zu ignorieren. Und ich glaube dir ja auch. Das, was ich als nicht normal bezeichnet habe, bezog sich ja auch gar nicht auf dich persönlich, sondern auf die Erscheinungen, die dich seit deines letzten Besuches in Weidlingen umgeben. Falls du sie jetzt plötzlich anziehst, kannst du diese Fähigkeit kaum als normal bezeichnen, oder? Und die Erscheinungen selbst doch wohl auch nicht.“
Cornelia schüttelte den Kopf.
„Kaum. Aber glaubst du wirklich, dass mir so ein überspannter Psychopath helfen kann?“
„Nein, wohl kaum. Es war auch kein guter Vorschlag, das gebe ich zu.“
„Hast du noch andere Vorschläge?“
„Keine Sorge, nicht von dieser Art.“
Cornelia sah Theo abschätzend an. Hatte er sich tatsächlich noch etwas anderes überlegt? Er lächelte ahnungsvoll.
„Na, ja“, meinte er gedehnt. „Mir kommt da gerade so eine Idee. Hast du nicht selbst gesagt, dass es so nicht weitergehen kann? Und ich hatte dir gesagt, dass ich dir glaube, was du mir erzählt hast. Aber jetzt will ich Beweise dafür. Und ich fürchte, auf das Mädchen werden wir uns nicht verlassen können.“
„Nun mach´s nicht so spannend. Was hast du vor?“
„Also, ich will nicht immer nur Zuhörer sein, sondern selbst erfahren, worum es bei diesen Erscheinungen geht, von denen ich noch keine Einzige selbst richtig erlebt habe.“
„Ja, und?“
„Erinnerst du dich noch an den Sonntagnachmittag, als du mir zerknirscht über deine Erlebnisse in Weidlingen erzählt hast.“
„Das war überhaupt nicht zerknirscht“, widersprach Cornelia lebhaft.
„Es war zerknirscht“, beharrte Theo. „Und ich hatte zwei Möglichkeiten vorgeschlagen. Möglichkeit eins: Alles ignorieren und aussitzen. Das funktioniert aber offensichtlich nicht, denn die Ereignisse setzen sich ja fort.“
„Du meinst also, den Dingen auf den Grund gehen?“
„Lyrisch ausgedrückt, ja. Ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig. Ich habe zwar keine Ahnung, wie wir vorgehen können, aber wir fangen am besten dort an, wo alles begann.“
„Am Gedenkstein in Weidlingen.“
„Genau. Vielleicht entdecken wir dort erste Hinweise. Glaubst du, du findest ihn wieder?“
„Sicher, das ist nicht schwer. Willst du es wirklich?“
Plötzlich hörte sich Cornelias Stimme gar nicht mehr so selbstsicher an.
„Hast du eine bessere Idee, wo wir anfangen könnten?“
„Nein, vielleicht hast du Recht. Du bist sehr mutig.“
Theo nahm Cornelia in die Arme und zog sie sanft an sich heran.
„Ich bin dein Held“, meinte er und gab ihr einen Kuss.
„Habe ich das jemals behauptet?“, meinte sie spöttisch.
„Bald wirst du es tun.“
Dieses Mal küsste sie ihn, und das dauerte länger.
Später fragte er sich, was er sich von dieser ganzen Angelegenheit versprach. Er hatte seinen Vorschlag durchaus ernstgemeint, aber nur Cornelia zuliebe. Theo zweifelte daran, dass sie bei dem Gedenkstein irgendetwas herausfanden, dass die Sache erhellte. Mochte Cornelia dort auch seltsame Dinge erlebt haben, es würde kaum ein zweites Mal geschehen. Und Mut hin oder her, er konnte sich kaum vorstellen, ihn zu benötigen, denn wahrscheinlich würde sich für ihn der Gedenkstein als schnöder Stein mit einer ganz normalen Gravur präsentieren, und er würde kaum die gleichen Erfahrungen machen wie seine Freundin. Aber dann spürte er eine Regung, die ihn überraschte. Er begann sich tatsächlich für die Ursachen der Erscheinungen zu interessieren. Vielleicht war an ihnen ja doch mehr dran, als er bisher geglaubt hatte. Unverhofft war er allen Ernstes zu einem Ermittler in einem Fall von angeblichen Geistererscheinungen geworden. Und jetzt, wo sie einen Plan hatten, war er sicher, dass sie den Fall lösen würden, ob mit oder ohne Geister. Eine unerwartete Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen, die in keiner Weise begründet war.
Nachdem sie endlich wussten, was sie tun wollten, verloren sie nicht mehr viel Zeit. Es war Donnerstag und schon am folgenden Abend wollten sie nach Weidlingen fahren, viel früher, als Cornelia es sich vorgestellt hatte. Beiden fiel es schwer, sich während des Freitags auf ihre Arbeit zu konzentrieren und als der Feierabend kam, holten sie die bereits gepackten Taschen aus ihrer Wohnung und machten sich auf den Weg.
Jeder von ihnen wusste, dass sie sich vielleicht auf ein ungewisses und in jeder Hinsicht unheimliches Abenteuer eingelassen hatten. Während Theo infolge seiner Ahnungslosigkeit ziemlich unbefangen war, hatte Cornelia mit ihrem Freund an der Seite ihre schlimmste Angst verloren. Obwohl sie natürlich keine rechte Vorstellung hatte, was auf sie zukam, war sie erfüllt von der Hoffnung herauszufinden, was es mit dem kleinen Mädchen auf sich hatte.
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