„Ja, es stimmt. Da war noch etwas“, gab sie schließlich zu. Die Erinnerung ließ Cornelia für einen kurzen Augenblick zittern, und ihr Gesicht zeigte eine vorübergehende Blässe. Aber sie erklärte mit keinem Wort, warum sie bis dahin gezögert hatte, selbst davon zu sprechen.
„War es so heftig?“
Cornelia nickte.
Das also war wohl der Grund für ihr Schweigen, dachte Theo.
„Als ich auf den Flur trat, spürte ich sofort, dass sich dort etwas Furchtbares aufhielt. Zuerst wurde das Mädchen sichtbar. Es stand vor der Glastür, als wäre es soeben eingetreten, und ich wollte auf sie zugehen.“
„Glaubst du, sie war der Grund für deine Befürchtung? Und wenn es so war, warum hast du dich denn nicht von ihr ferngehalten?“
„Nein, sie war nicht der Grund. Ich bin sicher, dass wir uns vor der Kleinen nicht fürchten müssen. Ich glaubte, dass sich der Schrecken nur an sie geheftet hatte, aber er war nicht stark genug, um mich von ihr fernzuhalten. Ich wollte wissen, was sie dort wollte. Ich dachte, dieses Mal war sie durch die Tür gekommen wie ein gewöhnlicher Mensch. Wie sie dort aufgetaucht ist, habe ich nicht gesehen. Vielleicht war die Gelegenheit günstig, mit ihr zu reden. Doch dann schob sich dieser furchtbare Schatten zwischen uns. Du weißt schon, der, der mir auch schon in Weidlingen das Grauen in die Glieder gejagt hat. Er fiel förmlich aus der Decke und blieb zwischen mir und dem Mädchen liegen. Ich empfand diesen Augenblick als noch furchtbarer als die erste Begegnung mit ihm. Es war wohl kaum zu überhören. Und dann ging alles ganz schnell. Neben dem Mädchen tauchte plötzlich wie geisterhaft der alte Mann auf und stellte sich ihr schützend, wie ich meine, zur Seite. Zuerst wiegte sich der Schatten unschlüssig hin und her, dann verschwand er – einfach so. Nur die beiden blieben noch einen Atemzug lang stehen, bevor sie sich ebenfalls auflösten. Natürlich sind sie nicht durch die Tür auf die Straße gegangen, wie ich behauptet habe.“
„Ich glaube, das war auch besser so, ich meine, dass du nicht davon gesprochen hast, wie sie sich einfach in Luft aufgelöst haben.“
„Ja. Und es ging wirklich alles sehr schnell, denn erst, nachdem der Spuk vorbei war, kamt ihr aus euren Büros.“
„Spuk?“, vergewisserte sich Theo.
„Wie würdest du es denn sonst nennen?“
„Tja, ich, also-.“
„Nun komm. Wir haben uns oft genug darüber unterhalten. Außerdem bist du selbst schon in den zweifelhaften Genuss der Wirkung ihrer psychischen Kräfte gekommen, auch wenn du nichts gesehen hast.“
„Du sprichst wie eine Esoterikerin?“
Theos Stimme klang ungewohnt besorgt.
„Ach, Quatsch. Aber es war doch so, oder?“
„Ich gebe zu, es war schon sonderbar. Aber es als Spuk zu bezeichnen, ich weiß nicht.“
„Das sagst du nur, weil du nicht daran glaubst. Es gibt keine Geister, also gibt es auch keinen Spuk. Ja, vielleicht, aber in unserem Fall machst du dir die Sache zu einfach, finde ich.“
„Vielleicht ist sie einfacher zu erklären, als du glaubst?“
„Dann erkläre sie mir doch, bitte.“
Cornelia begann sich in Rage zu reden. Jetzt war Vorsicht geboten. Sie konnte in ihrer Erregung ziemlich heftig werden, und für Theo war es jedes Mal eine sehr ungemütliche Situation. Glücklicherweise waren sie nur selten.
„Ich kann es dir nicht erklären“, gab er unumwunden zu und sagte damit die Wahrheit. „Belassen wir es erst einmal beim Spuk, bis wir mehr darüber wissen, was meinst du?“
Das war für diesen Augenblick der beste Vorschlag, den er machen konnte, und Cornelia lenkte ein. Sie wusste, sie würde ihren Freund kaum von ihrer Meinung überzeugen können, und wenn er über ihre sich verfestigende Überzeugung seine Besorgnis äußern würde, würde sie sich noch mehr erregen. Doch es konnte nur ein Friedensangebot auf Zeit sein.
Ihre Unterhaltung folgte bald anderen Bahnen und schien in einen gemütlichen Fernsehabend (für Cornelia) und einen ebenso gemütlichen Leseabend (für Theo) überzugehen.
„So kann es nicht weitergehen“, sagte Cornelia unvermittelt.
Sie hatte eine Weile einer Fernsehsendung zugeschaut, ohne ihr wirklich folgen zu können. Geistesabwesend hatte sie über das rätselhafte Mädchen und die Umstände ihres unerwarteten Auftauchens nachgedacht. Schließlich hatte Cornelia einen Entschluss gefasst.
Theo blickte von seinem Buch auf und sah Cornelia fragend an.
„Was sagst du?“
„Ich sagte, so kann es nicht weitergehen.“
„Was?“
Cornelia schaltete den Fernseher aus.
„Ich will wissen, was da läuft. Ich will wissen, was dieses Mädchen von mir will und warum sich so plötzlich Geister für mich interessieren, obwohl ich weder jemals welche gesehen noch an sie geglaubt habe. Warum tue ich es jetzt auf einem Mal? Ich muss wissen, warum ich plötzlich von solchen Dingen umgeben bin. So etwas ist mir mein ganzes Leben nicht passiert, und jetzt sind sie da, und ich werde sie nicht mehr los. Was ist das für ein Scheißspiel?“
Wieder hatte sie sich in eine unüberhörbare Erregung hineingesteigert, aber dieses Mal war nicht Theo der Grund. Er räusperte sich ein wenig ratlos, klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch. Für kurze Zeit musterte er seine Freundin, die ihren Kopf auf die Rückenlehne des Sofas gelegt hatte und mit versteinertem Gesicht an die Decke starrte. Dann räusperte er sich noch einmal. Cornelia ruckte mit dem Kopf vor und sah ihn unverwandt an.
„Ich muss es wissen!“, wiederholte sie entschieden.
Es war nicht der Zeitpunkt, sich mit Cornelia darüber zu streiten, ob sie wirklich von Geistern heimgesucht wurden, oder nicht. Wenn er jetzt wieder anfangen würde, daran zu zweifeln, würde er die Lage nur noch schlimmer machen. Er wusste, Cornelia rang mit ihrer Fassung, wahrscheinlich war sie über ihren Gefühlsausbruch am Vormittag selbst erschüttert gewesen. Also beschloss Theo, dieses »Scheißspiel«, wie sie es genannt hatte, mitzuspielen, obwohl er keine Ahnung hatte, wo sie anfangen sollten, und er nach wie vor alles andere als überzeugt war, es mit Geistern zu tun zu haben.
Nach einer ungemütlichen Zeit des Schweigens räusperte er sich ein drittes Mal.
„Und was schlägst du vor?“, fragte er.
„Ich weiß es noch nicht, ich habe keine Idee“, gab Cornelia zu.
„Du glaubst aber, dass sie uns, oder besser dir eine Botschaft zukommen lassen wollen“, meinte er.
„Warum sollte das Mädchen sonst versuchen, mit mir zu sprechen? Irgendetwas will sie mir sagen. Und es hat eine furchtbare Angst vor dem dunklen Schatten. Da bin ich sicher. Mir geht es ja genauso.“
„Hältst du es für möglich, dass er versucht, sie davon abzuhalten, mit dir in Verbindung zu treten?“
Cornelia nickte und ihr Gesicht verriet, dass ihr eine Erkenntnis gekommen war.
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber du hast Recht. So scheint es zu sein. Sie wagt es nur, mit mir zu reden, wenn er nicht da ist. Und sie scheint vor ihm zu fliehen, wenn er auftaucht.“
„Aber der alte Mann beschützt sie doch, wie du sagst.“
„Es sieht so aus, ja. In Weidlingen war er aber nicht da, und in der Redaktion erschien er erst nach dem Schatten, und bis dahin schien das Kind weglaufen zu wollen.“
„Weglaufen?“
„Na ja, verschwinden, verblassen, wie immer man es bezeichnen will. Der Mann hat sie, glaube ich, davon abgehalten.“
„Gut“, sagte Theo nachdenklich. „Ich sehe nur eine Möglichkeit, was wir tun können. Wir müssen, wir können nur darauf warten, dass sie deutlicher wird. Vielleicht würde es helfen, wenn du sie das nächste Mal entschieden wissen lässt, dass wir sie nicht verstehen können, wenn sie weiterhin so leise spricht.“
„Aber das habe ich ihr doch schon gesagt.“
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