1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 „Eigentlich“, meinte Theo, „war es eine ganz normale Begegnung, finde ich.“
Cornelia widersprach nicht so energisch, wie er erwartet hatte. Vielleicht hatte Theo ja Recht, obwohl er nicht wissen konnte, wie sie in jenem Moment empfand. Aber sie konnte nach seinen Erklärungsversuchen tatsächlich nur noch die seltsame Kleidung des Mannes als Grund für ihre Behauptung anführen, dass die Begegnung mit ihm so seltsam war. Und selbst die war vielleicht nur eine Marotte dieses Mannes.
Cornelia seufzte.
„Ja, vielleicht messe ich der Angelegenheit tatsächlich zu viel Bedeutung bei“, meinte sie.
„Das ist in deiner derzeitigen Situation ganz normal“, sagte Theo verständnisvoll. „Aber du wirst sehen, in ein paar Tagen ist wieder alles in Ordnung.“
„Meinst du? Na ja, kann schon sein.“
Theos Worte sollten zwar verständnisvoll klingen, aber ein, vielleicht ungewollter, mitleidig-spöttischer Unterton war nicht zu überhören. Und der hätte bei Cornelia gewiss zu einer trotzigen Reaktion geführt, wenn sie nicht zu nachdenklich gewesen wäre, um ihn zu bemerken.
Als einige Zeit später das Licht in der Wohnung von Theo und Cornelia ausging, stand unten auf der Straße im Schatten eines Baumes die Gestalt eines Mannes mit einem auffallend breitkrempigen Hut und starrte für einige Zeit hinauf zu ihren Fenstern. Das Licht der Straßenlaterne ließ kaum seine ärmliche Bekleidung erkennen. Dann drehte er sich um und verschwand humpelnd in der Dunkelheit. Niemand, der in diesem Augenblick auf dem Gehweg entlanggekommen wäre, hätte den Fußgänger sehen können.
Mitten in der Nacht rüttelte etwas an Theos Schulter. Nur widerwillig wachte er auf und knurrte unverständlich.
„Pst, leise!“, hörte er das beschwörende Flüstern von Cornelia.
„Was ist denn los?“
„Sie ist wieder da. Da, neben dem Fenster.“
Theo drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf.
„Wer ist da?“
„Na das Mädchen in dem weißen Kleid. Und es schaut uns an.“
Erst jetzt bemerkte er die Furcht in der Stimme Cornelias. Theo starrte in die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkennen. Nur schwach schien das Licht der nächsten Straßenlaterne durch die zugezogenen Gardinen. Es musste tiefe Nacht sein, denn auf der Straße herrschte absolute Stille. Er konnte in ihrem Zimmer niemanden entdecken.
„Was macht sie?“, fragte er leise.
„Nichts. Sie steht nur da und guckt.“
Theo wollte Cornelia schon dazu auffordern, dem Mädchen zu sagen, dass es sie schlafen lassen sollte, und sich wieder umdrehen, als ihm an eben jener Stelle ein ungewöhnlicher, heller Schleier auffiel, der sich leicht bewegte und hin- und herwaberte. Jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Cornelia spürte, wie er sich spannte.
„Siehst du sie jetzt?“, fragte sie.
„Ich sehe nur einen Schleier oder einen Nebel, der sich schwach bewegt. Was zum Henker ist das?“
Cornelia gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie reglos auf die Stelle. Was Theo nicht sehen konnte, weil sich der Nebel für ihn nicht veränderte, war die Tatsache, dass die Erscheinung, die vorher nur undeutlich von Cornelia beobachtet werden konnte, plötzlich klar und in Einzelheiten erkennbar wurde, obwohl sie nicht von der Stelle wich. Die Gestalt des Mädchens zeigte sich genauso, wie sie Cornelia in ihrem Blockhaus erschienen war. Doch jetzt stand das Mädchen einige Schritte entfernter.
Es schien jedoch nicht so verängstigt zu sein wie in Weidlingen, und es weinte offensichtlich nicht. Aber in seinem Gesicht zeichnete sich unverkennbar ein tiefer Kummer ab. Wie beim ersten Mal begann sich der Mund zu bewegen, und Cornelia zweifelte nicht daran, dass das Mädchen ihr auch jetzt etwas sagen wollte. Doch wieder hörte sie keine Stimme. In dem Maße, wie das Kind anscheinend begriff, dass es nicht verstanden wurde, verstärkte sich die Verzweiflung in seinem Gesicht.
In Cornelia regte sich plötzlich Mitleid, und zur Verwunderung Theos setzte sie sich senkrecht auf und streckte dem Mädchen ihre Hände entgegen.
„Sprich lauter“, forderte sie das Kind mit erstaunlich fester Stimme auf. „Ich verstehe dich nicht. Wie kann ich dir helfen? Wie heißt du?“
Das Gesicht des Mädchens schien sich etwas aufzuhellen. Sie sagte noch ein paar Worte und zeigte in eine bestimmte Richtung. Aber sie blieb nach wie vor unhörbar.
Plötzlich drehte sie ihren Kopf wieder schreckhaft in die eine und die andere Richtung, und ihr Gesicht bekam einen angstvollen Ausdruck. Cornelia wusste, was kommen würde. Sie sank wieder unter ihre Decke und zog sie sich bis zum Kinn. Gleich musste das Mädchen auf der Stelle verschwinden und der furchtbare dunkle Schatten wie ein reißender Wolf auftauchen. In ihrer eigenen Furcht war Cornelia nicht einmal in der Lage, Theo vor dem Erwarteten zu warnen.
Doch es kam anders. Plötzlich bewegte sich zwar ein Schatten in der Finsternis des Zimmers, aber es war kein Wolf, und das Mädchen verblasste auch nicht. Es war der Schatten eines Menschen, so viel konnte Cornelia erkennen. Und er musste die ganze Zeit unsichtbar neben ihrem Kleiderschrank gestanden haben, während sie vollkommen von der Anwesenheit des Mädchens eingenommen war.
Der Mann war nicht sehr groß – und er humpelte leicht. Als er auf das Mädchen zuging, erkannte sie vor dem schwach beleuchteten Fenster den Umriss eines beachtlichen Hutes. Kein Zweifel, das musste der Stadtstreicher vom letzten Morgen sein. Aber, verdammt, wie kam er in ihre Wohnung? Und was wollte er mit dem Mädchen?
Cornelia wollte ihm zurufen, dass er das Kind in Frieden lassen sollte, aber in diesem Augenblick richtete er sein in der Dunkelheit konturloses Gesicht in ihre Richtung und sie schwieg.
Es war jedoch kein unsichtbarer und doch furchterregender Blick, der Cornelia traf, sondern ein unsichtbarer und besänftigender, als wollte der Mann ihr wortlos mitteilen, dass er dem Kind nichts zuleide tun würde. Hoffentlich war es tatsächlich so und keine Einbildung.
Der Mann ging auf das Kind zu und streckte einen Arm nach ihm aus. Das Mädchen legte seine Hand bereitwillig in seine. Und dann verblassten beide und verschwanden aus dem Zimmer.
Cornelia blieb noch eine Weile reglos und stumm liegen. Plötzlich fürchtete sie, dass der dunkle Schatten doch noch auftauchte, aber je länger sie wartete, ohne dass etwas geschah, desto sicherer wurde sie, dass er dieses Mal wegbleiben würde. Theo neben ihr schwieg ebenfalls, aber sein gepresster Atem verriet ihr, dass er nicht schlief. Dann schaltete sie entschlossen das Licht ein. Ihr Schlafzimmer sah so aus wie immer. Sie und Theo waren wieder allein. Jetzt sah sie, dass er eine ungesund fahle Gesichtsfarbe hatte.
„Ich muss erst einmal eine rauchen“, stellte sie fest, warf ihre Decke zur Seite, stand auf, streifte ihren Bademantel über und ging in die Küche.
„Was hast du gesehen?“, fragte sie Theo, nachdem sie ein Glas Wasser getrunken hatte. Und gesehen musste er etwas haben, vielleicht sogar gespürt, sonst hätte er nicht so sichtbar fassungslos reagiert. Er rauchte zwar nicht, machte sich aber eine Flasche Bier auf. Es war Viertel nach zwei, und beide waren sie jetzt hellwach.
„Von dem Kind nur einen konturlosen Nebel, wenn es das Kind war und der Nebel tatsächlich vorhanden und meine Augen mich nicht getrogen haben“, erwiderte er in einer Weise, die seine Aufgewühltheit verriet.
„Es war da. Ich habe es so klar und deutlich gesehen wie an einem hellen Tag.“
„Ja, mag sein. Und dann kam dieser andere Nebel, finsterer, dichter, so kam er mir vor. Er berührte den hellen, kleineren Nebel und beide lösten sich auf.“
„Mehr hast du nicht gesehen?“, fragte Cornelia enttäuscht.
Theo schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich weiß, dass etwas da war, etwas, das mir eisige Schauer über den Rücken getrieben hat. Etwas Unnatürliches, das Angst macht.“
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