Privat soll er ein richtig netter Typ sein, obwohl Lena sich das schwer vorstellen kann. Vielleicht schlagen wirklich zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits tut er ihr leid. Andererseits hält sich Lenas Mitleid in Grenzen.
Sie braucht nach dem Anruf dringend eine Dusche. Unter dem heißen Wasserstrahl versucht sie intensiv an andere Dinge zu denken. Und es gelingt ihr tatsächlich: Szenen einer kurzen, aber leidenschaftlichen Affäre tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Wie oft hatten sich unter dieser Dusche ihre Körper vereint? Intensiv, ekstatisch, aber leider zu selten. Sie hätte heute Nacht lieber von Fredy als vom Tod ihres Vaters geträumt. Lena erinnert sich an die Segeltörns auf Blackys Yacht von Medemblik aus kreuz und quer über das Ijsselmeer. Fredy war vom Rauschgiftdezernat des LKA Mainz zum Präsidium Koblenz versetzt worden. In seiner Latzhose, dem Schimanski-Parka, das Palästinensertuch um den Hals gewickelt, den hohen spitzen Cowboystiefeln, mit dem Ring im Ohr und dem zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen langen Haar vermutete man eher einen Dealer als einen Drogenfahnder. Vielleicht war sein Aussehen das Geheimnis seines Erfolges, sowohl im Dienst als auch bei den Frauen. Die wahren Gründe seiner Versetzung hatte sie niemals erfahren, konnte sie später allenfalls erahnen. Lena bewunderte Fredys fast graziöse Bewegungen, wenn er auf dem Vorschiff turnte und sich bückte, um die Fock zu hissen. Dann rutschte die meist zu enge Jeans nach unten, und Lenas Blick sah die leicht verblassten Hinterbacken, die an seinem gebräunten Körper einen besonders reizvollen Kontrast boten. Er hatte einen echt knackigen Hintern. Sein verlängerter Rücken war anziehender als das mit Pickeln übersäte Arschgesicht von Hinz. Bei diesem Vergleich muss Lena lächeln.
Beim Landgang in Enkhuizen hatte die verhängnisvolle Affäre mit Fredy begonnen. Für Lena war es das erste Mal, dass sie mit einem Kollegen ein Verhältnis hatte. Für Fredy nicht. Aber das erfuhr sie erst später.
Die ungewöhnlichen Orte, an denen sie sich liebten, fügen sich wie bunte Mosaiksteinchen zu einem Bild schöner Erinnerungen. Und dann hatte Fredy von heute auf morgen die Beziehung beendet. Per SMS! Der Feigling! Sie erinnert sich trotz seines feigen Abgangs gerne an jene Zeit zurück. Aber sie hätte Fredys Seitensprünge auch nicht weiter ertragen und zunehmend Angst, die Kollegen könnten das Verhältnis entdecken. Erst später musste sie erfahren, dass Fredy vor den anderen »Hasch-Papis«, seinen Kollegen im Rauschgiftkommissariat, keine Geheimnisse hatte und selbst über sexuelle Vorlieben seiner häufig wechselnden Geschlechtspartnerinnen en détail Bericht erstattete. Lena hätte ihn damals umbringen können. Sie hatte sich zuvor von Michael getrennt. »Der ist doch Valoron auf Füßen. Dem kannst du beim Gehen die Schuhe besohlen«, hatte Fredy über seinen Vorgänger gelästert. Okay, er hatte recht. Michael war zwar eine treue Seele, wie ein Bruder im Geiste. Aber körperlich? Na ja. Im Bett war er eine Niete. Und heute noch sehnt sich Lena in einsamen Stunden nach Fredys gierigen Händen und dem Duft seiner Haut. Immer noch, aber seltener, obwohl der Macho sie zutiefst gekränkt hat. Manchmal fällt Lena in eine tiefe Depression, wenn sie über ihr Leben nachdenkt. Ihr Kinderwunsch würde sich wohl nicht erfüllen. Sie flüchtet in die Arbeit. Der Dienst lenkt sie ab. Dann hat sie keine Zeit zum Grübeln, und so schiebt sie die tausend Überstunden weiter vor sich her. Immer mehr statt weniger. Gedankenverloren dreht sie den Wasserhahn zu.
Erst jetzt hört sie das bekannte Hupsignal. Dreimal kurz. Einmal lang. Sehr lang.
Lena springt aus der Dusche, wickelt sich in das rote Badehandtuch und läuft mit kleinen Schritten zum Fenster. Sie streckt die Hand aus. Das vertraute Zeichen. Noch fünf Minuten. Bedeutet fünfzehn, aber ihr Lieblingskollege Tom Schneider, den sie vom ersten Tag ihrer Zusammenarbeit an in ihr Herz geschlossen hat, wird geduldig warten. Tom lebt allein auf seinem Hausboot Albatros im Rheinarm bei Vallendar gegenüber der Insel Niederwerth. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen. Mehr weiß Lena nicht. Noch nicht.
Tom Schneider schaltet den Motor ab. Es dauert bei Lena immer länger. Für ihn kein Problem. Bei Observationen im Rauschgiftkommissariat hat er das Warten gelernt. Immer der gleiche Rhythmus. Observationsauftrag: Bewegungsbild erstellen. Um das Zielobjekt eine Glocke bilden. In den Autos warten, bis der Dealer mit meist unbekanntem Ziel losfährt. Verfolgung aufnehmen. Ankunft irgendwo. Meist in den Niederlanden. Wieder warten. Manchmal die ganze Nacht. Weiterfahrt. Nächste Anlaufstelle. Wieder warten. Hat der Dealer den Stoff schon im Auto? Fährt er noch zu einem Bunker? Haben die Verkäufer ein Erddepot angelegt? Immer wieder meldet sich der Schlaf, gegen den jeder ankämpfen muss. Manchmal vergeblich. Der Schlaf kommt oft, bevor der Dealer weiterfährt. Dann das Alarmsignal. Schriller Ton. Der dringt durch Mark und Bein wie der Alarmgong der Einsatzleitstelle. Motor starten. Zurück auf die Autobahn. Höchstgeschwindigkeit. Bleifuß. Alles aus der Kiste rausholen, was der Drei-Liter-Motor hergibt. Geschwindigkeitsrausch. Jagdfieber. Auch ohne Sirenen und Blaulicht. Da die Fahrzeuge einzeln besetzt sind, ist Angst der einzige Beifahrer. Diese Angst vor dem Sekundenschlaf. Angst, in der Leitplanke oder an einem Baum sein Leben zu beenden.
Dann die Festnahme zum richtigen Zeitpunkt. Mit einer fingierten Vollsperrung durch einen vorgetäuschten Unfall. Schwieriger wird es, wenn der Fahrzeugführer die Observation erkennt und flüchten will. Abdrängen von der Fahrbahn ist gefährlich. Für alle. Hoffentlich kein Schusswaffengebrauch. Durchsuchung des Autos. Bei Misserfolg Frust und Ärger. Im Erfolgsfall Sicherstellung einer nicht geringen Menge Drogen. Also wesentlich mehr als nur zum Eigenverbrauch, damit man den gewerbsmäßigen Handel auch beweisen kann. Wohnungsdurchsuchung. Vernehmung. Festnahme der Lieferanten und Mittäter. Weitere Hausdurchsuchungen. Absetzen der RG-Sofortmeldung. Akte zusammenstellen. Gefangenentransport in das Polizeigewahrsam. Am nächsten Morgen Vorführung beim Haftrichter. Einlieferung in die Justizvollzugsanstalt. Das bedeutet im Extremfall: über dreißig Stunden ohne Schlaf. Immer das Gleiche. Bis zur nächsten Observation. Und die lässt meist nicht lange auf sich warten.
Da blieb nicht viel Zeit für die Familie und die Erziehung seiner Tochter Sabine. Und jedes Mal, wenn der Name Sabine Laube fällt, sieht er das Gesicht seiner vermissten Tochter vor sich und dann tauchen wieder die schmerzhaften Erinnerungen auf. Er weiß immer noch nicht, wo seine Tochter sich aufhält.
Sabine Laube ist tot. Und wo bist du, Sabine Schneider? Bist du auch gestorben, oder lebst du noch?
***
Lena trocknet sich ab und cremt ihren Körper ein. Sie weiß, dass Tom die Geduld aufbringt, die den meisten Männern fehlt. Er war noch nie in ihrer Wohnung. Sie könnte ihm doch einen Kaffee anbieten. Warum lässt sie ihn immer im Auto warten? Vielleicht, weil sie mehr für ihn empfindet, als er ahnt? Sie hat Angst vor einer neuen Beziehung. Und im Kollegenkreis sollte man ohnehin keine Liaison beginnen. »Hausfick bringt Unglick!« hatte Dr. Blatt die Polizeistudenten an der FH gewarnt. Und die Zeit mit Fredy hat ihr diese Binsenweisheit auf schmerzhafte Weise bestätigt. Lena zwängt sich in ihre hautengen Jeans, zieht die rote Bluse an, steckt die linke Hand in einen Ärmel der schwarzen Lederjacke und zieht mit der rechten die Wohnungstür hinter sich zu. Dann erst will sie die Hand in den anderen Ärmel stecken. Nur eine kleine Drehbewegung. Sie genügt. Er ist wieder da. Dieser plötzlich auftretende Schwindel im Kopf. In der letzten Zeit wieder öfter. Wie damals. Aber sie ist nie ohnmächtig geworden. Warum sollte es heute geschehen? Sie muss doch arbeiten.
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