Der alte Mann nickte.
Mittlerweile waren auch die vor der Bande Geflohenen zurückgekehrt, und die gesamte Dorfbevölkerung hatte sich auf dem Platz versammelt. Der Dorfälteste gab einige Anweisungen, die noch lebenden Banditen wurden ergriffen und gemeinsam in einen verschließbaren Stall gesperrt.
"Nun bekommen sie doch noch ihren Willen", feixte ein junger Bursche. "Sie wollten doch unbedingt zu unseren Rindern."
Der Dorfälteste sah den jungen Mann strafend an, und dieser senkte beschämt den Blick.
Niemand machte sich sie Mühe, die Verletzungen der Banditen zu versorgen. Sie hatten sich die Schmerzen selbst zuzuschreiben. Auch konnten sie kaum hoffen, mit dem Leben davonzukommen. Sicher würden die Soldaten des Präfekten nicht viel Federlesens mit ihnen machen.
Der Dorfälteste benannte zwei junge Männer, die sich sofort auf den Weg in die Stadt machten, um dem Präfekten Bericht zu erstatten.
Li Ning ging zu der Mutter des toten Kindes, um ihr Trost zu spenden. Doch als er in ihre Augen sah, wusste er, dass keine Worte der Welt den schlimmsten Schicksalsschlag, der eine Mutter treffen konnte, würden lindern können. Traurig ging er zu den anderen zurück. Dort erfuhr er, dass auch ihr Mann kürzlich von Wegelagerern ermordet worden war. Nun hatte sie niemanden mehr. Und wie ihr war es schon einigen aus dem Dorf ergangen. Immer wieder waren Bauern überfallen, ausgeraubt und ermordet worden. Und der Präfekt konnte oder wollte nichts dagegen unternehmen.
In diesem Augenblick, als ihm das Leid dieser Menschen so deutlich vor Augen stand, fasste Li Ning den Entschluss, diesen Menschen zu helfen. Sie mussten lernen, sich der Banditen zu erwehren. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Meister Shu seine Gedanken mitzuteilen.
Am Abend saßen die Mönche mit den Bauern beisammen. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich sein konnte, dass sieben unbewaffnete Mönche eine solche Übermacht an Bewaffneten besiegen konnten. Einigen war deutlich anzusehen, dass sie daran zweifelten, dies könne mit rechten Dingen zugegangen sein.
"Ihr könnt uns glauben", sagte Meister Shu deshalb. "Wir sind ganz normale Mönche aus dem Kloster von Shaolin. Allerdings beschäftigen wir uns sehr intensiv mit der Kunst der Verteidigung. Dabei haben wir gelernt, unsere eigenen Körperteile als Waffen zu gebrauchen. Es ist durchaus nichts Übernatürliches daran, sondern reine Übungssache."
Die Bauern nickten zwar höflich mit den Köpfen, doch ihre Augen sagten etwas anderes. Mit Worten waren sie nicht zu überzeugen.
Meister Shu sah Li Ning an, und dieser verstand. Beide standen auf.
"Macht bitte ein wenig Platz", bat Meister Shu, und diesem Wunsch kamen die Bauern erwartungsvoll nach.
Die beiden Mönche stellten sich einander gegenüber. Blitzschnell griff Li Ning unter Einsatz von Armen und Beinen an, und ebenso schnell wehrte Meister Shu die Angriffe ab.
Da die Bauern nicht in der Lage waren, den für sie viel zu schnellen Bewegungen zu folgen, waren sie nun noch verwirrter als zuvor.
"So", sagte Meister Shu. "Nun schaut genau zu."
Jetzt griff er an. Sowohl seine Angriffe als auch Li Nings Verteidigungsbewegungen wurden nun ganz langsam ausgeführt, sodass sie für jeden verfolgbar waren. Sowohl schnell als auch langsam wiederholten sie die Bewegungen daraufhin noch einmal.
"Ihr seht", sagte Meister Shu, "nichts davon hat irgend etwas mit übernatürlichen Kräften zu tun. Jede einzelne Bewegung ist erlernt. Und so wie wir, kann jeder andere auch, egal, ob Bauer oder Mönch, diese Kunst erlernen. Natürlich muss man jede einzelne Bewegung viele Male üben, bis man sie beherrscht."
Und als hätte er Li Nings Gedanken erraten, sprach er weiter: "Wir würden euch gern dabei behilflich sein. Wählt einige Männer aus, die bereit sind, eine harte Ausbildung auf sich zu nehmen. Wir werden sie dann in unserem Kloster das Wichtigste lehren, und sie wiederum können dann die anderen unterrichten."
Die Bauern sahen einander an, doch niemand sprach ein Wort.
Nach einiger Zeit des Schweigens räusperte sich der Dorfälteste. "Eure Taten und Eure Worte haben mich überzeugt. Es gibt keine andere Möglichkeit als zu lernen, uns selbst zu helfen." Der Dorfälteste genoss großes Ansehen im Dorf, und seine Meinung zählte viel.
Während die heutigen Erlebnisse den Bauern Gesprächsstoff bis weit in die Nacht lieferten, begaben sich die Mönche bald zur Ruhe. Dankbar nutzten sie die ihnen angebotenen Schlafplätze.
Obwohl Li Ning sehr müde war, fand er lange keine Ruhe. Das Schicksal der jungen Frau beschäftigte ihn zu sehr. Gab es irgendeine Möglichkeit, ihr zu helfen? Hatte sie nach dem Tod des Mannes und nun auch ihres Kindes noch weitere Verwandte im Dorf? Und wenn ja, würden diese sie über ihr Leid hinwegtrösten können? Li Ning wusste es nicht. Er grübelte darüber nach und kam zu keinem Ergebnis. Erst gegen Morgen schlief er ein. Trotzdem erwachte er wieder als erster.
Um die anderen nicht zu stören, wartete er geduldig, bis auch sie erwachten. Dann stand er auf. Unwiderstehlich zog es ihn zu dieser Frau. Er erkundigte sich nach dem Weg zu ihrer Hütte. Das ungute Gefühl, das er bereits die ganze Nacht über verspürte, verstärkte sich, und er beschleunigte unbewusst seine Schritte. Endlich angekommen, klopfte er an die Tür. Niemand antwortete. Er wiederholte sein Klopfen, doch wiederum ohne Erfolg. Er versuchte die Tür zu öffnen, und da sie nicht verriegelt war, gab sie nach. Er schaute in den durch das Tageslicht nur spärlich beleuchteten Raum. Li Ning näherte sich vorsichtig der Schlafstätte. Die junge Frau lag, noch immer ihr totes Kind in den Armen, friedlich in ihrem Bett. Schon glaubte Li Ning, seine Ahnung hätte ihn getrogen, doch dann sah er es: Blut!
Schnell schlug er die Decke zurück. Alles war blutüberströmt! Die Frau hatte sich die Pulsadern geöffnet. Das kleine Kind in die Arme nehmend, hatte sie sich hingelegt und war langsam verblutet. Nach dem Tod des Mannes hatte sie nur noch für ihren Sohn leben wollen, doch nun war auch er tot. Ohne die beiden geliebten Menschen wollte auch sie nicht länger auf dieser Welt bleiben und hatte sich auf den Weg zu ihnen gemacht.
Li Ning war zutiefst betroffen. Mit dieser unglücklichen, noch so jungen Frau, hatten die Banditen ein weiteres Leben ausgelöscht.
Schweren Schrittes ging er zurück zu seinen Gefährten und berichtete von seiner Enddeckung. Die erneute Schreckensnachricht bestürzte alle.
Als auch die Bauern davon erfuhren, hätten sie in ihrer unbändigen Wut am liebsten Rache an den Gefangenen genommen. Nur mit Mühe konnte Meister Shu, mit Unterstützung des Dorfältesten, sie von ihrem Vorhaben abbringen. Als die Gemüter sich wieder ein wenig beruhigt hatten, verabschiedeten sich die Mönche und machten sich wieder auf den Weg. Im Moment konnten sie nichts für die Bauern tun.
Der gestrige Tag und seine Folgen hatten alle tief getroffen. Erst bei einer Rast brach Meister Shu das allgemeine Schweigen.
"So wie diesen Menschen ergeht es sicher vielen anderen auch. Ich habe bereits mehrfach von solchen Banden gehört. Doch wie brutal und rücksichtslos sie vorgehen, davon haben wir erst jetzt einen Eindruck erhalten. Wir müssen etwas für die hilflosen Menschen tun."
Damit sprach er Li Ning nur allzu sehr aus dem Herzen. Diesen Banden musste Einhalt geboten werden, unter allen Umständen! Dieser Gedanke nahm ihn so gefangen, dass sein Erfolg bei den Wettkämpfen, ja selbst die bevorstehende Meisterschaft, in den Hintergrund seines Denkens verbannt wurden.
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