»Was ist mit dem Jungen«, wollte sie von dem Arzt wissen.
»Der ist tot«.
Mehr konnte, mehr wollte der Arzt nicht sagen, sodass Elisabeth fragend zu Johann blickte.
»Was ist geschehen«, die Angst in ihrer Stimme hatte nichts mit den Schmerzen ihrer Verletzung zu tun.
»Er ist vor einen Bus gelaufen«, die Erklärung klang tonlos, bedauernd, so als ob er sich bei ihr entschuldigen wollte, dass er ihn verfolgt hatte. Plötzlich fühlte er sich schuldig, schuldig am Tod eines Menschen, schuldig wegen der Nichtigkeit, wegen der er ihn zu Tode gejagt hatte.
In diesem Moment erreichte ihn, was er nur in einem Nebel wahrgenommen hatte. Es traf ihn wie ein Hammer, sein Herz begann zu rasen, die Schweißperlen, die auf seiner Stirn zu sehen waren, mussten dieses plötzliche Zittern hervorgerufen haben.
Der Arzt sprach ihn an, wartete auf eine Reaktion, dann griff er in seine Tasche, um eine Spritze aufzuziehen.
»Bitte machen Sie Ihren Arm frei«. Während Johann wie mechanisch der Anweisung folgte, erklärte der Arzt Elisabeth, was er tat.
»Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, Ihr junger Freund hat einen akuten psychischen Schock. Wahrscheinlich hilft es sehr schnell. Aber jetzt muss ich mich endlich um Sie kümmern, Sie haben lange genug warten müssen«.
»Sie müssen ins Krankenhaus«, ehe sie aufbegehren konnte, fuhr er fort. »Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung, das an sich ist nicht so schlimm, ein bisschen Ruhe hilft da schon weiter. Die Platzwunde am Kopf müsste gereinigt und versorgt werden, die könnte ich auch bei uns im Wagen versorgen. Was jedoch unbedingt im Krankenhaus gemacht werden muss, ist die Versorgung der Radiusfraktur. Damit die Speiche wieder vernünftig zusammenwächst, müssen wir das Gelenk ruhigstellen«.
Er spürte ihren fragenden Blick, »es ist nur ein leichter Gips, in ein paar Wochen ist alles wieder wie neu, dann wird der Gips entfernt. Mit ein paar Massagen und gymnastischen Übungen können Sie Weihnachten Ihre Gans ganz normal verzehren«.
»Wieso ist das Gelenk gebrochen, ich habe doch nichts gemacht«.
»Es war der Sturz, Sie haben versucht den Sturz mit der Hand abzufangen, dabei sind Sie wohl so unglücklich aufgekommen, dass die Speiche am Handgelenk gebrochen ist«.
»Kann ich mit den Zeugen reden«, der Polizeibeamte wirkte bedrohlich, wie er so auf die sitzenden oder gebeugt stehenden Personen herabblickte.
»Nein«, der Arzt begann mit Hilfe seines Begleiters Elisabeth aufzuhelfen, »außerdem werden beide jetzt ins Krankenhaus gebracht. Die Frau muss dringend versorgt werden, der junge Mann hat einen Schock, den können Sie jetzt sowieso nicht befragen«.
»Aber«, der Polizist gab nicht auf, »ich brauche die Aussagen der Zeugen, schließlich haben wir es mit einem tödlichen Unfall zu tun«.
Er begnügte sich mit den Personendaten sowie der Zusage sich zu melden, sofern eine Aussage möglich sei.
Der Alltag hatte sie wieder. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden, beide hatten eine Nacht zur Beobachtung dort verbracht, mussten sie zur Aussage ins Präsidium. Dort hatte man ihre Aussage protokolliert, die Richtigkeit der Niederschrift bestätigen lassen, dann kommentarlos verabschiedet.
»Die hätten ruhig etwas freundlicher sein können«, begrüßte ihn Elisabeth, die ihre Aussage bereits beendet hatte.
Johann zuckte mit den Schultern, er war froh wieder draußen zu sein. Seine erste Erfahrung mit der Polizei war zwar nicht abschreckend verlaufen, auf weitere Begegnungen wollte er trotzdem gerne verzichten.
Der Tag, der alles verändern sollte, begann regnerisch. Seit Tagen hatte die Temperatur die Schwelle von sieben Grad nicht überschritten. Die unmittelbar nach dem Unfall ausgesprochenen Glückwünsche sowie das vertrauliche Schulterklopfen, wegen des verhinderten Diebstahls verloren sich schnell im Alltag.
Das energische Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken, seit dem tragischen Unfall waren dreizehn Tage wie im Wind verflogen, ohne dass er viel aus seiner Umgebung wahrgenommen hatte. Manchmal wachte er nachts von Schweiß durchnässt auf, wenn er in einem Traum das Ergebnis der Verfolgung erlebte. Heute endete wieder so eine Nacht, als er noch vor fünf Uhr völlig verschwitzt aufgewacht war.
Ja bitte, wer ist da?
Polizei, bitte machen Sie auf, wir müssen mit Ihnen reden.
Er betätigte den Türöffner, was wollte die Polizei von ihm. Seit dem Tag, an dem er gemeinsam mit Elisabeth ausgesagt hatte, waren beide von weiteren Fragen verschont geblieben. Nach dem Öffnen der Wohnungstür blickte er auf die beiden Beamten in Zivil, die ihm einen grünen Dienstausweis vors Gesicht hielten.
»Können wir kurz in die Wohnung kommen, wir können drin alles Weitere klären«.
»Sind Sie Johann Berger«?
»Ja, wieso«?
»Herr Berger, wir haben den Auftrag sie wegen des Tatvorwurfs der vorsätzlichen Tötung festzunehmen. Ihnen wird vorgeworfen, vorsätzlich und mit Absicht den Tod von Roger Winter herbeigeführt zu haben, Sie müssen sich jetzt zu dem Tatvorwurf nicht äußern, wenn Sie jedoch«… Den Rest der Litanei nahm er nicht mehr wahr. Es war wie ein Rauschen, das immer stärker wurde, welches die Worte des Beamten übertönte.
»Haben sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe«, er hörte den dumpfen Klang, als wäre er gerade einem Flugzeug entstiegen. Was geschah gerade, sollte dies die Fortsetzung seines Albtraums werden oder spielte ihm hier jemand einen üblen Streich.
»Wer behauptet so etwas, sie müssen sich irren, es gibt doch Zeugen«. Johann fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. »Das muss ein Irrtum sein, ich habe niemandem etwas getan. Wer ist dieser Roger Winter, den ich vorsätzlich getötet haben soll«.
»Herr Berger, wir sollen Sie nur zur Vernehmung in die Dienststelle bringen, wenn Sie noch jemand informieren wollen, dann können Sie das jetzt tun, sonst müssen wir jetzt los«. Jetzt klang seine Stimme ungeduldig, offenbar hielt er die Diskussion für Verzögerungstaktik, die er so nicht hinnehmen wollte.
»Warten Sie, ich muss Frau Schlüter noch Bescheid sagen«. Noch immer verwirrt von der Anschuldigung trat er den Weg ins Treppenhaus an, dicht gefolgt von den beiden Beamten. Sie musste in unmittelbarer Nähe zur Eingangstür gestanden haben, denn sie öffnete unmittelbar nach dem ersten Klingelton.
»Johann was wollen die beiden von Dir«.
»Die sind von der Polizei, die wollen mich abholen. Elisabeth, die behaupten ich hätte den Jungen umgebracht, deshalb soll ich erneut vernommen werden«.
»So, nun haben Sie Bescheid gesagt, wir werden Sie jetzt mitnehmen«. Der ältere der beiden Beamten schob sich energisch in den Vordergrund.
»Moment junger Mann«, Elisabeths Stimme war nun sehr bestimmt. »Als Erstes möchte ich Ihren Namen wissen, dann möchte ich wissen, wohin Sie Johann Berger zu bringen gedenken«.
»Zur Mordkommission in die Keithstraße, mein Name ist Hauptkommissar Schneider und ich bin nicht Ihr junger Mann«. »So«, er ergriff Johann am Ellbogen, »dann wollen wir mal«.
»Johann mache keine Aussage, ich besorge Dir einen Rechtsanwalt, der sich heute noch bei Dir meldet«. Ihre Stimme verklang, während Johann am Arm festhaltend nach unten geführt wurde.
Im Nachhinein konnte er nicht sagen was ihn bewogen hatte sich auf sein Aussageverweigerungsrecht zu berufen, solange sein Anwalt nicht hier sei. Lag es an dem Ruf von Elisabeth oder war es die unvermittelt aufgetretene Angst, in etwas hineingezogen zu werden, was außerhalb seines Einflussbereichs lag.
»Wer ist Ihr Rechtsanwalt, wollte der Beamte wissen, können Sie den nicht noch einmal anrufen«.
Er hatte nur mit den Schultern gezuckt, er wusste selbst nicht, wer sein Rechtsanwalt war, Elisabeth wollte ihm einen Rechtsanwalt besorgen. Wahrscheinlich war dieser in ihrem Alter, deshalb benötigte er eben etwas mehr Zeit, um hierher zu kommen. Langsam begann es in ihm zu rumoren, was der Polizist gesagt hatte, als er abgeholt wurde. Er sollte mit Absicht den Tod dieses, wie hieß der noch. Dann erinnerte er sich, Roger Winter hatte der Polizist gesagt. Er sollte den Tod dieses Roger Winter herbeigeführt haben. Was für eine geschwollene Ausdrucksweise. Man warf ihm vor, jemanden umgebracht zu haben. Wenn er den Beamten richtig verstanden hatte, gab es eine Aussage, die genau dies behauptete.
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