„Es tut mir leid, mein Herr“, entgegnete ich ihm verschämt, aber unsere Firma hat leider noch keine Sterbeversicherung.“
Das gab ihm zu denken. Und da er sich bei uns nicht morden lassen wollte ohne hinreichende Fürsorge für die Hinterbliebenen, verabschiedete er sich um-, aber unmissverständlich.
Der Zweite der drei Musketiere, die ich vorgeladen hatte, sah sich im ganzen Haus um und sagte dann: „Ich habe es mir anders vorgestellt.“
Ich dachte an den letzten Mohikaner, der noch übrigblieb, und hatte es mir auch anders vorgestellt. Der hatte nämlich unterdessen bereits eine andere Stelle gefunden.
Auf das zweite Inserat meldeten sich nur noch siebundvierzig Bewerber, von denen zweiundvierzig zum Vornherein ausschieden. Der Rest schied erst nach persönlichem Augenschein aus. Beim dritten, vierten und fünften Inserat war es nicht anders. Inzwischen boten sich sechs weitere Tageszeitungen als Werbeträger an, von denen jede behauptete, dass sie am meisten beachtet werde. Da ich aber nicht gewillt war, einem Packer den Möbeltransport vom Berner Oberland oder vom St. Galler Rheintal nach Zürich zu bezahlen, wählte ich die Zeitung, die den Großteil ihrer Leser im Kanton Zürich hatte. Ich musste ohnehin das Blatt wechseln, um dem Ansehen des Verlags nicht zu schaden. Allmählich sah es aus, als ob kein Packer länger als zwei Tage bei uns bleiben würde.
Endlich kam der Montag heran, an dem unser neuer Packer antreten sollte. Es war ein bleicher, stiller Jüngling von sechzehn Jahren. Die Mutter hatte es für besser befunden, wenn er vor der Lehre noch ein Jahr arbeitete, um etwas stärker zu werden und ein wenig Geld zu verdienen.
Am Schluss der ersten Woche war nicht aus ihm herauszubringen, ob ihm der Job gefalle. Er hatte in den paar Tagen wohl noch kaum mehr als etwa zwanzig verschiedene Wörter von sich gegeben.
Am Montag der zweiten Woche erschien er nicht zur Arbeit. Um zehn Uhr rief seine Mutter an. Aus ihrer Stimme war herauszuhören, dass sie geweint hatte. „Es tut mir schrecklich leid, aber er liegt immer noch im Bett. Ich bringe ihn einfach nicht heraus. Er schämt sich halt so. Sein älterer Bruder ist zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil der den Militärdienst verweigerte.“ Das gab es damals noch. Ich beteuerte, dass uns das nichts ausmache. Vor uns bauche er sich nicht zu schämen. In zwei Wochen käme bei uns sogar ein Buch heraus, das sich für eine menschliche Behandlung der Dienstverweigerung und für die Schaffung des Zivildienstes einsetze.
Es half alles nichts.
Der bleiche Jüngling blieb im Bett, verweigerte seinen Dienst als Packer und schämte sich weiter.
Wir mussten einen Packer suchen, der sich nicht schämte.
Und einen solchen fanden wir dann auch.
Diesmal war es Frau Knopf, die mir aus der Verlegenheit helfen konnte. Unser Budget für Stelleninserate war schon längst überschritten. Das wusste auch Frau Knopf, weshalb sie sich selbst auf die Suche nach einem Packer und sich dadurch bleibende Verdienste um das Fortbestehen unseres Verlagsunternehmens machte.
Es war ein strahlender Sommermorgen, der trotz dem schattenspendenden Laub vor den Fenstern unseres Gärtnerhäuschens heiß, sehr heiß zu werden versprach. Als ich zur Arbeit kam – ich musste, um in mein Zimmer im oberen Stockwerk zu gelangen, durch das Büro von Frau Knopf –, saß auf ihrem Tisch mit untergezogenen Beinen eine schlanke Jünglingsgestalt mit lockigem, Haar und schwarzen Backenbärtchen, einem Halbgott der griechischen Sagenwelt an Ausdruck und Haltung nach unähnlich. Frau Knopf eilte auf mich zu, kaum dass sie die Tür sich öffnen sah, bereit, mich aufzufangen, falls das göttliche Bild mich derart in Verzückung versetzen sollte, dass ich vom Anblick überwältigt, zu taumeln beginnen würde. Das Götterbild lächelte mich kindlich unschuldig an, doch, obwohl sein Blick etwas naiv Umwerfendes an sich hatte, blieb ich aufrecht stehen.
„Darf ich Ihnen vorstellen? Herr Fringeli.“
Adonis Fringeli sprang leichten Fußes von seinem Götterthron herab, wechselte die Zigarette von der rechten in die linke Hand und streckte mir seine Nikotinfinger hin
„Herr Fringeli ist unser neuer Packer, falls Sei nichts dagegen haben.“
Nach den Erfahrungen, die ich bereits gemacht hatte, konnte ich nichts dagegen einwenden.
„Herr Fringeli wird allerdings nur aushilfsweise, bis wir einen anderen Packer gefunden haben…“, beeilte sich Frau Knopf, mir schonend beizubringen.
Also musste die Suche doch wieder anfangen.
„Herr Fringeli ist nämlich Fotograf.“
„Freischaffender Fotograf“, präzisierte der vom Olymp Herabgestiegene, um mir auf unaufdringliche Weise kund zu tun, warum er die freie Zeit aufbringe, sich ausnahms-, und aushilfsweise in diesem für ihn ungewohnten Métier umzusehen.
„Ich habe mir gedacht, dass Herr Fringeli stundenweise bei uns arbeitet und entsprechend bezahlt wird. Auf diese Weise kommt er uns trotz seinen künstlerischen Begabung nicht teurer als ein voll angestellter gewöhnlicher Packer.“
„Sie verstehen: Ich bin natürlich nicht Packer. Aber entgegenkommenderweise bin ich bereit, unter den für Fotografen üblichen Ansätzen zu arbeiten. Aus Freundschaft sozusagen, nicht wahr, Meli.“
Und Melanie Knopf nickte ihrem Schützling in zustimmendem Sinne zu. So war ich also der Sorge um einen neuen Packer vorläufig enthoben. Frau Knopf ebenfalls. Und zu ihrer Ehre muss gesagt sein, dass sie sich nie scheute, selber im Packraum Hand anzulegen und den Leiterwagen zum Bahnhof zu ziehen, wenn der leichtfüßige Jüngling mit seiner Fotoausrüstung um den Hals seiner ureigenen Betätigung nachging.
Sein größtes Verdienst erwarb sich der unwiderstehliche Glücksvogel aber dadurch, dass er das Fenster des Packraum und damit uns und unseren Lesern den unvergesslichen Blick zur Villa und ihrem herrlichen Garten öffnete.
Die Sonne stieg höher und höher, und da schon die Tage zuvor recht heiß gewesen waren und die Nächte nur wenig abgekühlt hatten, war es an diesem außergewöhnlichen Tag selbst im Schatten der Bäume und hinter den Mauern und kleinen Fenstern unseres Häuschens drückend heiß.
In der guten alten Zeit, als man es sich noch leisten konnte, einen eigenen Gärtner zu halten, hatte das kleine Haus zur Beherbergung des Privatgärtners und seiner Familie gedient. Ob schon der Gärtner die Fenster mit undurchsichtigen Vorhängen versperren musste, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich auf jeden Fall war sofort nach meinem Eintritt in die Firma von Frau Knopf auf höheres Geheiß darauf aufmerksam gemacht worden, dass keine Rosen abgebrochen oder abgeschnitten werden dürften, nicht einmal von den Heckenrosen, die zum Toilettenfenster hereinwuchsen, und dass unter gar keinen Umständen ein Fenster gegen den herrschaftlichen Garten hin geöffnet werden dürfe. Herr Fringeli wurde selbstverständlich von Frau Knopf ebenso rasch und gründlich und zudem sicherheitshalber noch von mir persönlich instruiert.
Nun hatte aber der Packraum zwei unterschiedlich zu behandelnde Fensterchen; eines gegen Süden, das zur Not noch geöffnete werden durfte, außer an ganz heißen Tagen, wenn die Hausherrin im Schatten der Trauerweiden Kühle und Erholung suchte. Stand also schon am Morgen der Liegestuhl zwischen Rhododendren und Trauerweiden, dann musste das Fenster unter allen umständen geschlossen bleiben, damit weder der Auftritt noch der Abgang der Kühlung suchenden Dame beobachtet werden konnte. Das Fenster gegen Westen zu öffnen jedoch war selbst bei tropischer Hitze unter keinen, aber auch wirklich ausnahmslos keinen Umständen gestattet.
An diesem hochsommerlichen Tag, da die Luft vor den Fenstern schon am Morgen zitterte, stand der Liegestuhl bereits auf dem Rasen, als wir zur Arbeit kamen. Natürlich musste das Fenster einen Spalt breit geöffnet werden, damit man dies überhaupt sehen konnte. Obwohl der Liegestuhl nicht besetzt war, musste ihm wie weiland dem Gesslerhut zu Altdorf Reverenz erwiesen werden, sozusagen in entgegengesetzter Weise, dadurch nämlich, dass er nicht beachtet wurde. Wurde er nicht beachtet, so war dies der Beweis dafür, dass er rechtzeitig eben doch gebührend beachtet worden war.
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