Das erste Schreiben des Kölner Instituts trägt das Datum von 30. August 1966. Nachfolger Stendenbachs Dieter Fröhlich, früher in Afghanistan bei der Außenstelle der Universitäten Bochum und Köln an der Universität Kabul, schreibt:
„ Am 28. Juli ging hier ein Schreiben (der Deutschen Forschungsgemeinschaft) ein, in dem uns mitgeteilt wurde, daß die Angelegenheit nun dem Hauptausschuß zur Entscheidung vorliegt, allerdings müsse über diesen Antrag mündlich verhandelt werden, und diese Sitzung findet erst am 7. Oktober statt. Das heißt also, daß noch alles in der Schwebe ist und Sie sich – wohl oder übel – noch gedulden müssen. Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat noch nichts von sich hören lassen. Wir werden in den nächsten Tagen dort anrufen, um zu erfahren, wie weit Ihr Antrag gediehen ist.“
Nach der Abreise Unnithan‘s kehrt für uns etwas Ruhe ein. Wir lernen den Campus, die Kollegen und die Stadt näher kennen. Unsere Gedanken kreisen um längerfristige Perspektiven. Am 21. September 1966 erst beantworte ich das Schreiben Fröhlichs:
„Was meinen Antrag an die Forschungsgemeinschaft angeht, so finde ich es wirklich enttäuschend, daß sie jedes Mal telefonisch etwas versprechen, was sie nicht halten. ... An das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit habe ich vor einigen Tagen geschrieben. Noch besser wäre es, wenn Sie die Zeit fänden, Herrn Dr. Greif ab und zu anzurufen, damit das Interesse vom Institut aus gezeigt wird.“
Und zu unserem neuen Umfeld schreibe ich:
„Anlaß zur Kritik an den Verhältnissen hier gibt es natürlich in Fülle. Und ich weiß nicht, wenn ich für immer hierher gekommen wäre, ob ich nicht sehr frustriert wäre. Was mich wirklich erstaunt ist, daß die sogenannten gebildeten Menschen in ihrem Verhalten so irrational und traditionell sind. Man könnte fast von einer dualen Persönlichkeitsstruktur sprechen. Es ist nicht so sehr das fehlende Wissen, was im modernen Sektor alles verlangsamt, sondern die Attitüde der Personen, die ihr gesamtes Wissen nur darauf verwenden, sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken. Wie sie das schaffen, muß man wirklich bewundern. Es gehört schon Intelligenz dazu, nichts zu tun in einer Weise, die kein Vorgesetzter kritisieren kann. Wenn alles programmgemäß verläuft, werde ich eine Untersuchung über die hohen Funktionäre des modernen Sektors durchführen, mit dem Ziel herauszufinden, inwieweit diese Gruppe das angeeignete Wissen tatsächlich anwendet, inwieweit diese Gruppe eine wissenschaftliche Attitüde entwickelt hat bzw. wie groß die Diskrepanz zwischen Wissen und dessen Anwendung ist. Meine Hypothese ist, daß das schwerste Hindernis, das der Modernisierung entgegensteht, nicht im traditionellen Sektor liegt. Wenn der sogenannte moderne Sektor nicht modernisiert wird, wird die Entwicklung eher verlangsamt als beschleunigt.“
Erst nach dem Soziologenkongreß beginnen auch andere Kollegen zu schreiben, eher privat, weil es offiziell nichts Neues zu berichten gibt. König hat mir noch keine Zeile geschrieben. Vielleicht ist er sauer auf mich, daß ich ihn wegen Unnithan so bedrängt hatte. Unnithan bringt die Kunde mit, daß König im Oktober in Kabul nach den Rechten sehen muß und bei der Gelegenheit einen Abstecher in Jaipur machen wird.
Hansjürgen Daheim, mit der Habilitation vor mir an der Reihe, leitet die soziologische Abteilung des Mittelstandsinstituts. Es ist nicht in einem der Universitätsgebäude untergebracht, sondern in der Stadt in einer Etagenwohnung. Daheim ist der einzige Mitarbeiter von König, der seine Briefe an uns nicht im Institut diktiert, sondern privat schreibt. Einen unmittelbaren Arbeitszusammenhang mit ihm habe ich nicht. Seine Briefe sind anders. Am 18. September hat er geschrieben:
„ Liebe Frau Aich, lieber Herr Aich, herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Brief, nach dem wir uns fast ein Bild davon machen können, wie Sie in Jaipur leben. Wir hoffen vor allem, daß es Ihnen inzwischen gelungen ist, eine Wohnung zu finden, die nicht derart teuer ist. Sie schreiben, daß der ausgebildete Inder das größte Hindernis für die Modernisierung des Landes darstellt. Das sollte Sie aber doch nicht wundem: Mit dem typischen deutschen Akademiker ist es ja wohl kaum besser bestellt. Schlimm ist nur, daß man sich hier wie dort wenigstens bis zu einem gewissen Grade an diese Leute anpassen muß, weil die Außenseiterrolle auf längere Sicht nur schwer erträglich ist.
Mich würde interessieren, was denn die Studenten mit ihren Statusansprüchen machen, die durchgefallen sind oder zwar ein Examen, aber keine Stelle haben.
Ich schreibe heute erst, weil uns Ihr Brief mitten in den Vorbereitungen für den Weltkongreß erreichte. Genau heute vor zwei Wochen habe ich Frau und Kinder zu den Schwiegereltern gebracht und bin mit Herrn Stöbe nach Evian gefahren. Der Kongreß wird am besten durch einen angeblichen Ausspruch einer hochgestellten Persönlichkeit der ISA charakterisiert. Er wäre eine Katastrophe geworden, wenn das Wetter nicht so gut gewesen wäre. Meine bleibenden Eindrücke werden wohl sein: Die Fahrten zum Montblanc und zu den Diablerets, die morgendlichen und abendlichen Aperitifs, eine zunächst unerfreuliche Diskussion mit Leuten aus der DDR und aus der Kongreßarbeit eine nette Geschichte: Ein Russe benutzte das Badehandtuch mit eingewickelter Badehose seines (englischen) Vorredners, um die Tafel abzuputzen. Beim zweiten Mal resignierte der Engländer und meinte, er hätte zwar seinen Beitrag zum Kongreß schon geleistet, wolle aber noch einen Beitrag zur internationalen Kooperation leisten. Das Niveau der papers in den beiden Arbeitsgruppen, die ich besucht habe, war m. E. sehr niedrig. Bemerkenswert war, daß russisch praktisch dritte Kongreßsprache war und daß im Unterschied zu dem Kongreß in Stresa 1959 die Leute aus der Sowjetunion und der DDR sich um sachliche Beiträge ohne Propaganda bemühten.
Mit der Habilitation geht es nun auch voran: Wie mir König gestern mitteilte ist der Umlauf der Arbeit praktisch beendet und die Probevorlesung auf die erste Fakultätssitzung, Mitte November gelegt, die Bestimmung des Themas soll im Umlaufverfahren erfolgen. So stehen die Chancen, daß wir in den ersten Januartagen nach Berkeley gehen werden, eigentlich gut. ...
Im übrigen fand ich, als ich von Evian wiederkam, einen Brief des Hauptgeschäftsführers des Zentralverbandes des deutschen Handwerks vor. Ein Journalist hatte aus Sacks Arbeit für das Hamburger Abendblatt einen Knüller fabriziert und der zweitoberste aller deutschen Handwerker verlangte etwas beleidigt und erregt Auskunft. Ich hoffe, das sich kein größerer Briefwechsel daraus ergibt.
Für heute alles Gute und herzliche Grüße. Ihre Elisabeth + Hansjürgen Daheim“
Zufällig schreibt auch Fritz Sack zwei Tage später zum Kulturschock:
„ Ist Dir eigentlich gar nicht der lustige Widerspruch in der Schilderung über Eure ersten Eindrücke und Erlebnisse aufgefallen? Du schreibst zwar von dem ausgebliebenen berühmten Kulturschock, schreibst dann aber unmittelbar hinterher von der Magen und Darmverstimmung. Angesichts Deiner netten Ausführungen im Kölner Zeitschriftenartikel über Frustration, Aggression, Verschiebung, Sublimierung usw. sollte man eigentlich annehmen, daß Dir selbst die Beziehung zwischen dem Ausbleiben des Kulturschocks und dem Eintreten des Magen– und Darmschocks klar ist. Diese Geschichte hättest Du mal Frau Prof. Meistermann erzählen sollen. Du wärest bei Ihrer Reaktion sicher rot geworden.“
Und über den Weltsoziologentag:
„ Wir sind seit wenigen Tagen aus Evian, dem großen Völkertreffen der Soziologen zurück. (Wie Du wahrscheinlich auch dort erfahren hast, ist die Sache mit Prof. Unnithan noch in Ordnung gegangen. Nach so viel Eilsendungen und Telegrammen hin und her konnte am Ende der Lohn auch nicht versagt werden.) Es gab dort ein großes Wiedersehen mit allen möglichen Leuten. Unter anderem waren Gugler, Rüschemeyer, Stendenbach, viele Bekannte für mich aus Amerika dort. Interessant war das mächtige Vordringen der osteuropäischen bzw. sozialistischen Soziologie auf dem Kongreß. Jedes Land von hinter dem Eisernen Vorhang rückte mit einer großen wohlausgerüsteten Kompanie an, und sie machten Trubel, wo sie nur konnten. Wissenschaftlich kann man von so einer Mammutveranstaltung kaum mehr ernsthaft profitieren, weil man die ganze Zeit mit sich ringen muß, wo man hingeht und wo man fort bleibt. Prof. König als Präsident hat sich seiner Sache mit Eleganz und Souveränität entledigt. Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten.“
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