Vor der Abreise Unnithans hatte ich überhaupt keine Gelegenheit mich mit den Kollegen im Department zu unterhalten, außer mit Yogendra Singh, der das Papier für Unnithan geschrieben hatte. Auch ohne ein persönliches Gespräch hatten die übrigen drei meiner Bitte entsprochen, zu Beginn meiner Lehrtätigkeit ihre Veranstaltungen besuchen zu dürfen. Das war großzügig. Nun habe ich Zeit, das nachzuholen, was schon längst fällig gewesen ist. Trotz meiner Entschuldigung sind sie reserviert. Sie sagen mir offen, daß das Department mehrheitlich gegen die Einladung an mich war. Ich werde nun für ein ganzes Jahr eine höhere Stelle für einen von ihnen blockieren, nur weil Unnithan jemanden brauchte, der für ihn zu schreiben bereit ist. Der ehemalige Vice Chancellor Metha, hat wie immer dem Wunsch Unnithans, auch gegen alle Widerstände, entsprochen. Ohne Metha wäre Unnithan nicht der Head of the Department. Bei seiner eigenen Berufung hat Metha die Unnithans mit nach Jaipur gebracht. Beide sind nun in der Universität beschäftigt.
Auch in Indien gelte der in den USA für akademische Karriere kreierte Grundsatz „veröffentliche oder verrecke“. Das Problem für Unnithan sei, daß er nicht schreiben kann. Deshalb organisiere er sich „Schreiber“. Einer seiner Schreiber, lndra Dev, sei gerade in der Jodhpur University der Head of the Department geworden. Der andere, Yogendra Singh, gehe im Dezember für mehrere Monate an die McGill University. Nun werde ich wohl für ihn schreiben. Andere Kollegen würden für Unnithan nicht schreiben.
Ich bin geknickt, die Kollegen merken es, aber ich diskutiere nicht. Bei der nächst bester Gelegenheit frage ich Yogendra Singh, warum er sich dafür hergibt für Unnithan zu schreiben. Nun, Unnithan könne nur organisieren, aber nicht schreiben, sagt Singh. Dagegen fiele es ihm leicht zu schreiben, insbesondere wenn alle Vorbereitungen für das eigentliche Schreiben so vorbildlich organisiert werden, wie Unnithan dies tue. Schließlich werde auch er wie Indra Dev sehr bald von Jaipur weggehen. Das Schreiben für Unnithan sei ein kleineres Übel, als deswegen einen Dauerkonflikt mit Unnithan zu riskieren. So sei es auch mit Indra Dev gewesen.
All dies erzähle ich meiner Frau. Wir beraten und entscheiden uns für eine sanfte Ablehnung, sollten wir oder ich von Unnithan direkt angesprochen werden. Wir konzentrieren uns auf die Entwicklung eines hinreichend breit angelegten Instruments für die Messung vom Grad der Modernität im modernen Sektor und auf die Erprobung des Instruments bei unterschiedlichen Gruppierungen im modernen Sektor. Unnithan hat als gemeinsames Projekt eine Untersuchung über die Orientierung der indischen Bürokratie vorgeschlagen. Auch dafür werden wir ein solches Instrument gebrauchen können. Im Campus und in der Stadt sind genügend Möglichkeiten, um begleitende Voruntersuchungen durchzuführen. Dabei lernen wir die Studierenden und Lehrenden immer näher kennen. Viel näher als es nur über Beobachtungen und über zufällige Begegnungen möglich gewesen wäre. Je näher wir diesen beiden Gruppen kamen, um so mehr verfestigte sich unsere Idee, auf jeden Fall eine Befragung über deren Erwartungen, Wünsche, Einstellungen, Gedanken als mittelbare Träger der Modernisierung durchzuführen, zumal sie sehr wenig Finanzmittel beanspruchen würden. So sind wir dabei, dafür Erhebungsbögen fertigzustellen. Wir hatten dafür auch etwa vier Wochen Zeit, da Unnithan seine Teilnahme an dem Weltkongreß auch für weitere Reisen nutzen wollte.
Noch bevor Unnithan abreiste, organisierte er für Yogendra Singh einen Arbeitsplatz im Gästehaus der Universität. Er sollte in Abwesenheit von Unnithan die Auswertung einer Untersuchung über „Tradition of Nonviolence in East and West” voranbringen. Ein Doktorand assistierte ihm dabei. Zwei Tage vor Unnithans Rückkehr, um den 25. September 1966 herum, bittet mich Singh, den Stand der Auswertung anzusehen. Er käme nicht weiter. Gut, daß wir mit unseren Fragebögen so gut wie fertig waren. Diese eher harmlose Bitte von Yogendra Singh leitet für uns, und sicherlich auch für ihn, eine unvorhergesehene Phase ein.
Der provisorische Arbeitsplatz ist ein geräumiger Raum. Auf der Wandseite eines großen Schreibtisches sind Bücher über „Non-violence“ aufgereiht. Die übrige Fläche ist beansprucht von Ordnern, Fragebögen und Konzeptpapieren. Singh und der Doktorand wissen nicht, was sie mit den vielfältigen Antworten auf offene Fragen anfangen sollen. Der Fragebogen ist wie für demoskopische Erhebungen in den USA gestaltet. Aber Einschätzungen von „Non-violence“, Einstellungen dazu, Erfahrungen darüber und Bewertungen von Erfahrungen sind komplexere Problemstellungen. Offene Fragen sind halt das Naheliegendste. Sie haben keine ordentliche Schlüsselliste, um aus den einzelnen Fragebögen zu einzelnen Fragen die Bandbreite der Antworten in ordentliche und überschaubare Strichlisten zusammenzutragen. Also bin ich für Stunden beschäftigt, ihnen zu erläutern und beispielhaft vorzuführen, wie sie neue zusammenfassende Klassifikationen und Kategorien bilden könnten, skalieren könnten, wie sie über Strichlisten Tabellen erstellen könnten usw. usw.
Unnithan ist zurück. Er vermittelt uns den Eindruck, daß er in Evian mit König und Scheuch über Forschungskooperationen beraten hat. Er will schnellstmöglich über Modalitäten für die Kooperation der beiden Universitäten verhandeln. Wie könnten die aussehen? Welche Themen? Wie soll die Arbeitsteilung sein? Wer sollen die Verfasser sein usw. usw. Er will „eine institutionelle Zusammenarbeit“ auf der Grundlage von schriftlich fixierten Verträgen. Er will eine Diskussionsvorlage erarbeiten.
Schon am nächsten Tag fragt Unnithan meine Frau, ob sie bereit wäre, die Aufbereitung des Materials über das Projekt „Non-violence“ zu leiten, vor allem aber die Verantwortung für die Erstellung von ordentlichen Tabellen zu übernehmen. Er würde relativ schnell die hierfür notwendigen finanziellen Mittel herbeischaffen können. Meine Frau stimmt dem zu, auch angesichts unserer Lebenshaltungskosten im Gästehaus. Auch ich sehe keinen Grund, warum meine Frau diesem Vorschlag nicht zustimmen sollte, unabhängig von dem finanziellen Nutzen. Später wird sich herausstellen, daß dies eine unkluge Entscheidung gewesen ist.
Am nächsten Tag, 29. September 1966, organisiert Unnithan eine Diskussionsrunde über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Instituten. Unnithan bittet noch Singh an dieser Runde teilzunehmen, aber keinen anderen Kollegen im Department. Dieser Tatbestand hätte mich stutzig machen müssen, tut er aber nicht. Eine Vorlage von Unnithan liegt auch nicht vor. Er hätte keine Zeit gehabt, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Ich schlage vier Diskussionspunkte vor: Auf welcher Ebene findet die Zusammenarbeit statt, wie soll die Arbeitsteilung zwischen den beiden Instituten aussehen, wie soll die Arbeitsteilung zwischen den beiden Instituten auf die personelle Ebene der Forscher übertragen werden und wie sollen die Modalitäten der Veröffentlichung sein. Singh und Unnithan stimmen ihnen zu. Wer soll protokollieren? Ein Protokoll wird wohl in dieser Phase nicht nötig sein, meint Unnithan. Ich bin immer noch nicht stutzig. Es wird kein Protokoll gemacht.
Eine Umsetzung von einigen allgemein anerkannten akademischen Normen stellt sich in der Diskussionsrunde als komplizierter heraus. Gewiß gibt es kodifizierte, allseitig akzeptierte akademische Normen nicht. Selbst wenn dennoch solche Übereinstimmungen bekundet werden, halten diese in der konkreten Praxis nicht immer. Schon beim ersten eher harmlosen Punkt wird die unterschiedliche Interessenlage deutlich. Unnithan will die Zusammenarbeit nur auf die Ebene der Direktoren der beiden Institute beschränken. Ich halte dagegen, vor allem mit zwei Argumenten. Auf der Ebene von Direktoren ist eine Vermischung von institutionellen und personellen Interessen schwierig auseinanderzuhalten. Und ohne Beteiligung der Gremien der Universität würde die Nutzung der universitären Einrichtungen nicht möglich sein. Unnithan akzeptiert schließlich die Institute als unterste Ebene und die Statuten der beiden Universitäten als verbindlichen Rahmen.
Читать дальше