Eigentlich sind wir das Leben im Gästehaus ganz schön leid. Auch uns schont die „Rache Akbars“ nicht. Und alles bleibt in der Schwebe. Ich schreibe fleißig nach Köln, aber die Kollegen sind beschäftigt mit dem Weltkongreß. Die an sich freundliche Aufnahme im Campus erhält den ersten Riß, als wir erfahren, daß die erste freiwerdende Wohnung bereits vergeben ist, und zwar an einen, der sich erst seit drei Tagen in Jaipur aufhält. Ich erinnere schriftlich den Vice Chancellor am 11. September und bitte ihn, sich an seine Wohnungszusage zu halten und die Verwaltung entsprechend anzuweisen. Dr. R. J. Chelliah, Mathurs Nachfolger im Department of Economics, will einem Ruf nach Hydrabad im Süden Indiens, folgen. Er will seinen Anspruch auf das Haus, das er bewohnt, aufrechterhalten und will erklärterweise, daß wir während seiner Abwesenheit das Haus samt Mobiliar bewohnen. Nach einigem Hin und Her erhalten wir dann am 20. September die beruhigende schriftliche Bestätigung, daß wir den Bungalow Nr. C – 2, zur Zeit bewohnt von Dr. Chelliah, bekommen werden, sobald er frei wird.
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Wie schon erwähnt, habe ich Veranstaltungen von 15 Stunden in der Woche. Es gibt keinen Seminarraum. Die Studierenden haben Anwesenheitspflicht in jeder angebotenen Veranstaltung. Bindestrich–Soziologien. Jede Veranstaltung beginnt mit der namentlichen Überprüfung der Anwesenheit, die auch in einem Heft registriert wird. Nach der Feststellung der Anwesenheit erwarten die Studierenden, daß Vorlesung gehalten wird. So geschieht es auch meist vorgelesen!
Es ist wie in der Schule, mit dem Unterschied, daß hier nichts abgefragt wird. Eine Einbahn–Kommunikation. Dabei ist der Teilnehmerkreis zahlenmäßig überschaubar. Eine Vorlesung dauert jeweils 45 Minuten. Die letzten 5–10 Minuten sind für Fragen. Die Studierenden kommen nach vorn, stellen individuell die Fragen und erhalten auch individuell ihre Antworten mit entsprechend leiser Stimme. Dann gibt es eine kurze Pause. So läuft es jeden Tag von 10 bis 13 und 14 bis 17 Uhr. Diskussionen über den Stoff sind nicht vorgesehen. Deshalb bleibt es nicht aus, daß die Bezeichnung Vorlesung auch wörtlich genommen werden kann, begünstigt dadurch, daß das Department mit Büchern dünn bestückt ist. Wie stellen die Lehrenden fest, ob das Vorgetragene auch verstanden wird? Es gibt Klausuren. Natürlich bleibt nicht aus, daß für die Klausuren auswendig gelernt wird.
Der Bestand der Bücher zeigt, daß Soziologie in Jaipur nur amerikanische Soziologie bedeutet, mit einem größeren „time lag“, also mit einer größeren zeitlichen Verzögerung als in Deutschland. Die ausländischen Bücher sind teuer, wesentlich teurer als der Wechselkurs an sich bedingt. Die Mittel sind knapp. Empirische Untersuchungen sind gerade „in“. Abweichendes Verhalten ist 1966 groß in Mode. Die Konzepte, die Begriffe, die Fragen werden aus den amerikanischen Arbeiten übernommen. Natürlich kommen auch Ergebnisse heraus. Ergebnisse kommen immer heraus. Aber wie relevant sind Ergebnisse, die über kopierte Erhebungsinstrumente der US–Untersuchungen erzielt werden?
Dann das Problem der Auswertung. In Jaipur wird Statistik für den Magisterstudiengang aus Textbüchern der 40er Jahre gelehrt. Und, wo sollen die Lehrenden dieser Universität für die Lehre lernen, wenn sie selbst keine Möglichkeit für eigene Forschungen oder reichlichen Zugang zu Forschungsberichten anderer Länder haben? Ich sehe immer wieder das Gefälle. Zweifelsohne wird die neuere Soziologie anglosächsisch dominiert. Die an Empirie orientierte deutsche Soziologie zeigt schon einen „time lag“ von 10 bis15 Jahren auf. Sicherlich bedingt auch durch die Sprachbarriere. Die Sprache ist in Indien kein Problem. Aber die Resourcen fehlen. „Man power“ ebenso wie das konvertierbare Geld.
Ich bin gezwungen, immer genauer in die Verhältnisse dieser Universität und dieser Stadt hinein zu schauen, und mich ständig zu bemühen, das Beobachtete zu begreifen. Natürlich laufen die Prozesse der Wahrnehmung, der Beobachtung und Bewertung durch die Brille meiner Ausbildung. Und diese Brille läßt nur einen Blickwinkel zu: den der modernen Soziologie. Wo ist jener Korridor zur Modernität für das traditionelle Indien? Welche gesellschaftlichen Einrichtungen sind tatsächlich auf der Suche nach dem Korridor? Wer sind die Hauptakteure und Träger, wer könnten Hauptakteure und Träger für den Modernisierungsprozeß denn sein? Welche Einrichtungen stehen der Modernisierung im Weg? Welche kulturellen Werte? Religion? Kastenwesen? Fehlende Mobilität, materiell wie psychisch? Bürokratie? Vetternwirtschaft? Korruption? Die Geographie? Eine Kombination von mehreren Faktoren? Welche Kombination?
Jeder Tag bringt neue Perspektiven, neue Pläne. Forschungspläne am laufenden Band. Ich gehe immer noch davon aus, daß die Mittel für die beantragte Untersuchung bewilligt werden, daß wir viel werden herumreisen müssen und neben dem Material zur Rückanpassung auch Materialien zur Beantwortung vieler, vieler anderer Fragen werden sammeln können. Ohne nennenswerte zusätzliche Kosten. Nur arbeiten und selbst ausbeuten wie bisher! Und wir, meine Frau und ich, sind ein Team, das erheblich mehr leisten kann als die bloße Addition zweier Kräfte. In dieser Phase verdrängen wir die Widrigkeiten des Lebens in dem Gästehaus und sehen nur den Vorzug, in– und ausländische Gelehrte aus der nächsten Nähe zu beobachten und mit ihnen ausführlich vielfältige Probleme diskutieren zu können.
Eigentlich sind es keine Diskussionen. Es sind unsere Fragen und so etwas wie heraussprudelnde Eindrücke der ausländischen Gäste, die keine Wissenschaftstouristen sind. Wir gewinnen auch durch Fachdiskussionen mit den indischen Kollegen, durch die teilnehmenden Beobachtungen über den Unterschied von programmatischen Zielen und der tatsächlichen Praxis immer neue Eindrücke und Einblicke. Auf der Ebene der Beschreibung gibt es in diesem Gedankenaustausch keine Unterschiede. Auf der Ebene der Analyse bzw. der Erklärungsversuche beginnen die Unstimmigkeiten. Die indischen Gelehrten bieten Erklärungsversuche an, die sehr konkret, aber nicht ohne weiteres nach– und überprüfbar sind. Ich kann nicht leugnen, daß auch ich manche konkreten Hinweise der indischen Gelehrten als Ausweichmanöver ansehe, um Dinge nicht beim Namen nennen zu müssen. Uns überrascht es nicht, daß wir auf allen Ebenen, also auf den Ebenen der Beschreibung, Analyse und Veränderungsstrategien, mit den angelsächsischen Gelehrten übereinstimmen.
Beispiel: der Problembereich „Studentenunruhen“. In der Begegnung mit den einzelnen Studierenden ist überhaupt kein Gewaltpotential feststellbar. In der Masse jedoch sind jedem Einzelnen dieser Studierenden alle Arten von Gewalt zuzutrauen. Aus unwesentlichen Anlässen entsteht kollektiver Unmut, der im Laufe weniger Stunden in Demonstrationen, Besetzungen der Universitätseinrichtungen und zum Durchprügeln der Universitätsautoritäten eskalieren kann. Es finden aber keine Diskussionen zwischen den Lehrenden und Studierenden statt. Übrigens auch nicht über Lehrinhalte oder über die Organisation der Lehrveranstaltungen. Die Folge ist zunächst ein Abwarten und Beobachten, wie weit der Unmut eskaliert. Bleibt es auf der Ebene von Demonstrationen und Parolen, gibt es keine Aktivitäten bei den Universitätsautoritäten. Werden Anzeichen von Besetzung und Prügelei registriert, werden die Universitätsoberen aktiv. Zunächst beraten sie miteinander. Soll die Polizei gerufen werden? Die Polizei darf sonst den Campus nicht betreten. Wenn die Polizei gerufen wird, versuchen die Universitätsoberen sich selbst schnellstmöglich zu verbarrikadieren. Die Polizei löst dann die Demonstration auf. In der Regel gewaltsam.
Bis es zum nächsten Mal kommt. Lehrveranstaltungen fallen häufig aus. Die Lehrenden diskutieren nicht einmal untereinander, was die Ursachen der Studentenunruhen sein könnten, sie tauschen nur Informationen aus, was alles geschehen ist und wer was abgekriegt hat. Und dieser Meinungsaustausch findet mit großem Lustgewinn statt. Die Ursache ist eh bekannt. Die politischen Parteien seien schuld. Sie bringen die Unruhe in den Campus hinein. Es sei eh ein nationales Phänomen. Außerdem solle sich die Jugend auch mal abreagieren dürfen.
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