Den indischen Gelehrten im Gästehaus widerspreche ich. Ich berichte über mein erstes Erlebnis in Jaipur. Ich bin im Verwaltungsgebäude, als die erste Unruhe losgeht. Bevor ich die plötzliche Hektik der Verwaltungsbediensteten deuten kann, sind die wütenden Studierenden schon im Sitzungsraum. Die anderen Räume waren von innen verbarrikadiert. Fast gleichzeitig kommen die Polizisten mit Stöcken. Ich stehe erstarrt und befürchte das Schlimmste. Als die Prügelei dann mit Polizeigewalt beendet wird, kommen die anderen heraus. Auch ich bin erstaunt, daß ich von keiner Seite etwas abgekriegt habe. Beide Seiten haben mich verschont. Wieso? Welch überflüssige Frage! Ich hätte nur Glück gehabt und sollte das Schicksal nicht herausfordern. Das ist auch das Ende der Erörterung.
Beispiel: Problembereich Kommunikation. Es finden keine Gespräche zwischen Lehrenden und Studierenden statt, von einer Diskussion über den Inhalt oder über die Art und Weise der Vorlesung ganz zu schweigen. Es gibt auch keinen Raum für eine Zweiwege–Kommunikation. Feiern oder Ausflüge wären die einzigen Möglichkeiten. Von keiner Seite kommt ein Anlauf. Also bleibt alles, wie es ist. Meist sind sie unter sich. Und unter sich sind sie durchaus kommunikativ.
Beispiel: der Problembereich Niveau der Ausbildung. Der Mangel an materiellen und personellen Ressourcen beeinträchtigt insbesondere die natur– und ingenieurwissenschaftlichen Fächer. Hierüber und über den internationalen Vergleich gibt es Übereinstimmung. Aber über daraus folgende Fragen gibt es weder eine Übereinstimmung, noch eine Diskussion. Wird beispielsweise ein optimaler Gebrauch von den konkret vorhandenen Ressourcen gemacht? Ließe sich beispielsweise das unübersehbare Gefälle zwischen dem Wissen der Lehrenden und der Hochschulabsolventen durch eine andere Organisation überwinden? Hängt dieses Gefälle tatsächlich nur mit den Ressourcen zusammen?
Überraschend sind auch die unterschiedlich in Betracht gezogenen individuellen Handlungsalternativen. Keiner der ausländischen Gelehrten im Gästehaus hat vor, mit seinem indischen „Counterpart“ über konkrete Handlungsalternativen zu diskutieren. Das, was sie in Indien lernten, sei eine persönliche Angelegenheit. Diese Wahrnehmungen und Einschätzungen hätten mit ihrem konkreten Auftrag nichts zu tun. Der indische „Counterpart“ würde auch ein Gespräch über solche konkreten Verhältnisse innerhalb der Universität als persönlichen Affront ansehen. Woher man das so genau wisse? Na, das kann man sich an fünf Fingern abzählen! Damit ist die Diskussion auch am Ende. Es ist deshalb so überraschend, weil diese Besucher als „Modernisierungsexperten“ geschickt worden sind.
Werden sie ihre Wahrnehmungen, die wir im Gästehaus der Universität Rajasthan in der abendlichen Kühle fernab von der Hektik des Berufes mit so viel Engagement bereden, in den offiziellen Bericht aufnehmen? Nachdenkliche Pause. Sind denn solche persönlichen Wahrnehmungen wissenschaftlich gesichert? Die Gegenfrage ist auch eine Antwort. Aber eine Antwort dieser Qualität unterbindet auch jede weitere Diskussion. Einige sind ehrlicher. Als Anekdoten möglicherweise. Im offiziellen Bericht würden sie nur zu Unstimmigkeiten auf beiden Seiten führen. Wem wird damit wirklich geholfen? Ein Naturwissenschaftler erzählt uns wiederholt über die Kluft zwischen naturwissenschaftlicher Kompetenz seiner indischen Kollegen im Department und deren traditionellen Ansichten. Wir sind einig, daß es ohne die Überwindung dieser Kluft eine moderne Entwicklung nicht geben wird. Warum diskutiert er diesen Tatbestand mit den indischen Kollegen? Er will nicht sofort antworten. Er nimmt sich eine Auszeit. Er ist schon seit einigen Wochen in Jaipur. Er wird auch einige andere Departments in anderen Teilen des Landes besuchen. Seine Frau und sein Sohn begleiten ihn.
Am nächsten Tag kommt er selbst auf das Thema zurück. Wir sind nicht über seine Antwort überrascht. Überrascht sind wir über seine Offenheit und Ehrlichkeit. Es sei eine sehr schöne Zeit, die die ganze Familie in Jaipur erlebt. Er möchte seine persönliche Frustration nicht außer Kontrolle geraten lassen, möchte nicht, daß seine Mission hier oder in den anderen Universitätsorten in Indien gefährdet wird. Deshalb wird er mit seinen indischen Kollegen nicht diskutieren. Und später, in seinem offiziellen Bericht? Auch nicht. Er wird diese „Reisequelle“ nicht gern durch seine eigenen Handlungen versiegen lassen. Ohne offizielle Einladungen können Forschungsreisen wie diese nicht stattfinden. Dies hat mit Skrupel, mit Moral oder mit Courage nichts zu tun. Nur mit nüchterner Kalkulation. Auch seine Kinder sehen es gern, wie die Bananen wachsen, oder Mangos oder Pfeffer. Privat könnte er ihnen eine Reise wie diese nicht bieten.
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Die Redaktionen beider Magazinsendungen des WDR rufen häufig an. Die Verständigung ist schlecht. Die Idee des Telefoninterviews mußten wir fallen lassen. Wir vereinbaren die einzig mögliche Organisation der Zusammenarbeit. Bei etwas längerfristig voraussehbaren Themen werden sie eine Funkleitung beim ARD–Studio in Neu–Delhi bestellen. Ich müßte dann von Jaipur nach Delhi reisen. Über Nacht per Bahn. Ca. 8 Stunden.
Die Kommunikation mit dem Institut in Köln ist dürftig. Seit Mitte Juni sind wir weg aus Köln. Nach unserer Ankunft in Jaipur habe ich an die Kollegen im Institut und natürlich auch an König geschrieben. Dann kam die Geschichte mit Unnithans Flugticket. In meinem ersten ausführlichen Schreiben an König habe ich erwähnt: „Unnithan ist interessiert, mit uns zusammen eine Untersuchung über die Orientierung der indischen Bürokratie durchzuführen. Das erstaunlichste an der indischen Bürokratie ist, daß jeder einzelne das für seine Stellung richtige Verhalten herausgefunden hat und das Verhalten der anderen sehr genau antizipieren kann. Auf diese Weise kann jeder, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, wunderschön ineffektiv bleiben. Es ist nicht so, daß die Bürokraten hier nicht tüchtig wären. Nur daß sich ihre Tüchtigkeit in Verzögerung und Blockierung ausdrückt, die sich nur durch eine fast institutionalisierte Bestechung beheben läßt. Das hängt einmal damit zusammen, daß die Aspirationen der Beamten schneller gestiegen sind als die Gehälter anderer Gruppen. Ich war wirklich sehr erstaunt herauszufinden, daß hier jeder genau weiß, welche Leistung mit weichem Extra entlohnt werden muß. Über die Höhe wird nicht gehandelt, sie steht fest. Sie können uns sicherlich eine ganze Reihe Anregungen geben, wie wir die Untersuchung am besten anlegen können.“
Was hier unausgesprochen im Mittelpunkt steht, ist die Rolle der Bürokratie in dem Modernisierungsprozeß. Die Soziologen in Indien sind gerade mit Diskussionen über den die Soziologie bestimmenden Begriff der 40er und 50er Jahre „Westernisierung“ beschäftigt. Gesellschaftliche Veränderungen würden nur durch das Spannungsfeld zwischen „Westernisierung“ vs. „Sanskritisierung“ verständlich, praktisch die Vorläufer der Diskussion über das Spannungsfeld zwischen „Modernität“ vs. „Traditionalität“. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Die Richtung der früheren Diskussion war offen. Bei der späteren Diskussion ist Traditionalität als eine eindeutig frühere Phase der Entwicklung definiert, die dann zur Modernität übergeht. Zur gleichen Zeit wird auch die „Phasentheorie“ der weltwirtschaftlichen Entwicklung in den USA von Walter Rostow kreiert. Sicherlich nicht zufällig, wie ich heute weiß.
Aber damals befasse ich mich intensiv mit der Frage, wie der soziologische Begriff der Modernität, wie er von Daniel Lerner und Talcott Parsons diskutiert wird, für indische Verhältnisse operationalisiert, d.h. für eine Erhebung handhabbar gemacht werden kann. Ich beginne unterschiedliche Verhaltensweisen in gleichartigen Situationen zu identifizieren und diese im Spannungsfeld modern vs. traditionell zu bewerten. Dann versuche ich viele Verhaltenssituationen zu identifizieren, in denen unterschiedliche Verhaltensweisen in der definierten Bandbreite möglich sind.
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