„Modernisierung“ durch wirtschaftliche Entwicklung beschreitet manchmal seltsame Wege. Die US–Wirtschaftsexperten überzeugen oder überreden indische Wirtschaftsplaner, im fruchtbaren Weizenland Zuckerrohr anzubauen, weil die Zuckerausfuhr in die USA für Indien ungeahnte Möglichkeiten öffnen würde, wertvolle Devisen zu verdienen. Indien hat einen chronischen Divisenmangel und kann nicht die notwendigen Maschinen für die Modernisierung importieren. Die USA hat schon mehr als einen Boykott über den Zuckerimport von der Zuckerinsel Kuba verhängt. Die USA brauchen Zucker und haben Weizen in Überfluß. Also könnte Indien den ungedeckten Weizenbedarf durch begünstigte Einfuhr aus den USA abdecken. Begünstigt insofern, daß Indien die Einfuhr mit nichtumtauschbaren indischen Rupien zahlen durfte. Diese Vereinbarung ist als „PL 480“ in die Geschichte eingegangen. Mit der Zuckerausfuhr hat Indien wenig Vergnügen. Denn die eingenommenen Devisen muß es für den Transport des Weizenimports ausgeben, weil nach dieser Vereinbarung dieser Transport nur mit US–Frachtschiffen vonstattengehen durfte. Die Transportkosten mußte Indien in harter Währung zahlen. Zu US–Tarifen, versteht sich. Die USA häuften indische Rupien an. Für die Verwertung dieser Rupien wurde die „Asia Foundation“ gegründet. Diese reiche Stiftung investiert nun in alle möglichen Austausch– und Forschungsprogramme, die halt schlichte Politikfinanzierung, Meinungsmache und Spionageprojekte sind.
Also sind die Wissenschaftstouristen dem Gästehaus der Universität immer im Voraus angekündigt. In der Regel kommen sie in der Dunkelheit an, damit sie von dem Tag was gehabt haben. Die Tische werden schon in aller Ruhe nachmittags gedeckt. Herrlich gekocht. Ein Gedeck mit mindestens 4 Gängen. Es ist auch ein Augenschmaus. Nach der Ankunft wird reichlich geduscht. Das Wasser fließt ja und der Tag war heiß. Dann stürzen sie sich mit einem riesigen Appetit auf das Lukullische. Der Reiz ist ins unermeßliche gesteigert, wenn das Ganze im Kerzenschein vonstatten geht. Beim verführerischen Nachtisch ist ein Nachschlag selbstverständlich. Meine Frau und ich spekulieren darüber, um wie viel Uhr wohl heute „Akbars Rache“ einsetzen wird. Der programmierte Durchfall zwischen 2 und 3 Stunden nach dem Gaumengenuß. In der Regel kurz vor Mitternacht. Meist begleitet von Stromausfall. Und wenn „Akbars Rache“ einsetzt, bleibt kaum Zeit zum Kerzen anzünden. Die Wasserspülung tut es nicht. Die Stille der Nacht ist dahin. Geräusche von Metalketten, Fluchen aus allen Zimmern. Ein Höllenkonzert. Am nächsten Morgen, bleiche Gesichter und eine Handvoll Pillen zum Frühstück.
Alle sind im Voraus gewarnt. Sie sind auch vorsichtig. Aber was können sie machen, wenn das abgekochte Wasser nicht lange genug gekocht hat? Wenn der Pudding mittags schon fertig ist? Die Eiscreme so verführerisch ist! Und der Tisch stundenlang gedeckt bleibt! Vielleicht ist es auch nicht „Akbars Rache“. Vielleicht ist es die ausgleichende Gerechtigkeit! Wer will es so genau wissen?
Mit den Kurzbesuchern ist es schwierig, irgendein Problem zu diskutieren. Sie sind meist wie der Wirbelwind. Viele Ausländer besuchen die Universität zielbewußt. Sie bleiben etwas länger. Es gibt auch Besucher, die in regelmäßigen Abständen das Gästehaus beehren. Nur der Manager weiß das. Und auch solche Unglücksraben wie wir, die einen ungewollten längeren Aufenthalt im Gästehaus durchleben. Ein Politikwissenschaftler taucht etwa nach drei Wochen wieder auf. Er reist intensiv durch Rajasthan. Was er genau macht, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß er sich seit einigen Monaten in Indien aufhält und viel herumreisen muß. Forschungsreisen, wie er gemeint hat. Er ist also wieder da zu einer Zeit, als meine Frau einen mittelprächtigen Kulturschock verpaßt bekommen hat. Noch bevor Unnithan zum Weltsoziologenkongreß reiste, macht das ganze Soziologie–Department samt Studierenden einen Ausflug. Ausflug heißt auch viel laufen. Meine Frau hat Sandalen an. Die Straßen sind voller Sand, wie es in der Wüste so üblich ist. Es scheuert an der Fußsohle. Sie bekommt eine Blase, und die ist nicht zu klein. Am nächsten Vormittag entschließt sie sich, in der Ambulanz der neuen Universitätsklinik die Blase aufmachen zu lassen. Der diensthabende Arzt sieht die Blase an und beruhigt meine Frau. Eine Kleinigkeit.
Er nimmt ein Skalpell, hält es unter fließendes Leitungswasser und will die Blase aufschneiden. Meine Frau protestiert. Es hilft nicht. Die Blase ist schon auf. Die Schmerzen sind weg. Noch vor der Dunkelheit schmerzt ihr Fuß wieder und sie bekommt Fieber. Steigend. Der Manager informiert uns, daß es in der Stadt einen deutschen Arzt gibt. Ein Dr. R. E. Heilig, ein Frühimmigrant aus der Zeit des Dritten Reiches. Er ist ein Herzspezialist und eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt. Er ist gerade von dem „Governor of Rajasthan/Chancellor of the University“ wegen seiner umfassenden Kenntnisse in Medizin zum Professor Emeritus ernannt worden. Der Manager des Gästehauses ruft ihn an. Dr. Heilig will aber vorher wissen, ob wir auch in der Lage sind, sein nicht so knappes Honorar zu zahlen. Wir sind schockiert. Wieder kein Kulturschock. Denn Dr. Heilig gehört trotz seiner jüdischen Konfession der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur an, wie ich auch. Es ist halt empörter Schock.
Wir bitten den Manager, einen indischen Arzt zu rufen. Er ruft einen Dr. Baldwa an, der auch prompt kommt. Er lehrt auch in der medizinischen Hochschule. Er nimmt sich Zeit. Ich erzähle ihm die ganze Geschichte, während er die üblichen Routinemessungen macht. Das Fieber ist bereits zu hoch. Er zögert, ein fiebersenkendes Mittel zu verabreichen. Zunächst nur kalte Umschläge. Er ist für Warten. Er wartet auch. Der US–Poltikwissenschaftler hat von dem Vorfall gehört. Er klopft an die Tür, kommt herein und ist besorgt. Auch er wartet mit uns. Die Temperatur steigt nicht mehr. Dr. Baldwa verabreicht das erste Medikament nach zwei Stunden. Er verschreibt auch Medikamente. Der Manager schickt einen Bediensteten zur Apotheke. Dr. Baldwa will am nächsten Morgen wiederkommen.
Der Politikwissenschaftler bleibt noch anteilnehmend. Da ich weiterhin kalte Umschläge mache, finde ich es nicht unangenehm, daß jemand fast ununterbrochen über seine Erfahrungen in Indien erzählt. Vieles kann ich nachvollziehen, einige Einschätzungen teile ich auch. Ich bin ein guter Zuhörer. Auch wenn manchmal meine Aufmerksamkeit geteilt ist. Innerlich bin ich wütend über den Arzt von der Ambulanz und auch über Dr. Heilig. Das besorgte Gesicht von Dr. Baldwa hatte mir Angst gemacht. Meine Frau ist immer noch apathisch. Plötzlich schrecke ich auf. Der Politikwissenschaftler bietet mir doch wirklich einen Forschungsjob an. Geld soll kein Problem sein. Es gäbe zu wenig fähige Forscher. Und Rajasthan ist ein so unerforschtes Gebiet. Was denkt die ländliche Bevölkerung? Welche Hoffnungen, welche Befürchtungen haben sie? An welchen Kommunikationsmitteln partizipieren sie? Wer sind die Meinungsmacher? Wie ist ihre Zukunftsplanung? Wie sieht es mit ihrer Vertrauensstruktur aus?
Ich bin erstaunt, was er alles über uns weiß: wer ich bin, daß ich mit der empirischen Sozialforschung vertraut bin, und daß meine Forschungsanträge in Deutschland noch nicht bewilligt sind. Und er ist direkt. Was ist, wenn ich über dieses unverhohlene Angebot zur Spionage reden würde? Rajasthan grenzt an Pakistan. Indien und Pakistan haben schon an dieser Grenze Krieg geführt. Und Geld soll dabei keine Rolle spielen? Ich hatte genug. Ich verabschiede ihn mit der beiläufigen Bemerkung, daß ich über das Gespräch nachdenken werde. In den nächsten Tagen begrüßen wir uns höflich. Ich sage ihm nichts. Auch er fragt nicht. Es gibt auch nichts zu fragen. Er kennt schon die Antwort. Übrigens sollte das Geld von der „Asia Foundation“ kommen. Er ist ein angesehener Anwerbeagent dieser Stiftung. Deshalb reist er so viel. In viele Gebiete kommen auch die „Amerikaner“ nicht rein. Also sind indische Forscher gefragt.
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