Ich wusste, dass ich gehen musste. Dass ich nicht mehr viel Zeit hatte, um diesen leblos vor sich hin liegenden Körper, der so oft wie ein Gefängnis für mich war, zu verlassen. Und ich wollte ihn auch verlassen. Er schien mir irgendwie nicht mehr passend. Aber wie sollte ich hier überhaupt herauskommen? Wie groß musste die Öffnung sein, um in Gänze hier heraus zu kommen? Wie groß war die Gänze meines Inneren überhaupt? Was war denn überhaupt die Gänze meines Inneren? Es war wie verhext. Was ist ganz, was ist die Gänze? Wenn ich hier raus wollte, raus musste, wie? Es schien mir absurd, dass ich mit der Gänze meines Inneren durch so kleine Öffnungen wie mein Ohr, meinen Mund oder, noch schlimmer, durch meinen After entkommen müsste. Das fand ich am schlimmsten. Damit hatte ich immer Schwierigkeiten. Aber darüber möchte ich nicht reden. Der Gedanke, dass ich durch die Nase entfleuchen müsste, schien mir noch verrückter. Dann müsste ich mich teilen, weil ich ja zwei Nasenlöcher hatte. Und ich erlebte mich ja ohnehin oft als geteilte, wenn nicht sogar als gespaltene Persönlichkeit. Und das sollte jetzt vorbei sein. Ich wollte eins sein. Nase schied also aus. After auch. Das war klar. Definitiv. Also Mund oder Ohr. Schön war der Gedanke an beides nicht. Aber was blieb mir? Also, wo sollte es hinausgehen?
Es war ja vorhin kein Problem, meine Hand oder auch meinen Blick in mein Innerstes zu richten, aber ich wusste nur noch allzu gut, wie sehr mich der Anblick meines Innersten verstörte. Und gehörten mein Gehirn, meine Speiseröhre und mein Magen und all das andere, was sich innerhalb meines Körpers befand, nun eigentlich noch zu meinem Inneren oder waren sie doch nur Teil meines Äußeren? Ich hoffte nicht. Ich war extrem verunsichert. Wie sollte ich den Weg in die Freiheit finden? Und was hieß überhaupt Freiheit? Vor allem, wenn man tot ist? Und davon, dass ich tot sein musste, war ich mittlerweile überzeugt. Ja, ich war tot. Zweifelsohne. Und eigentlich machte mir Freiheit ja eher Angst, als dass sie mich reizte. Ich sammelte mich, sah mich noch einmal kurz in mir selbst um, stellte mit einiger Genugtuung fest, dass mich wirklich nichts mehr in mir hielt und machte mich vorsichtig auf den Weg. Vorsichtig und ängstlich. Aber auch entschlossen.
Ich war immer sehr ängstlich, wenn es um Umbrüche, Veränderungen oder, noch schlimmer, Neuanfänge in meinem Leben ging. Solche Sachen verunsicherten mich jedes Mal zutiefst. Nichts war mir mehr zuwider, als Gewohntes, Gekanntes und Geliebtes aufzugeben. Wobei es für mich schlimmer war, Gewohntes und Gekanntes aufzugeben. Geliebtes kannte ich gar nicht. Darum war mir das Gewohnte und Gekannte auch immer zugleich das Geliebte. Das war für mich immer eins. Fast immer. Notgedrungen. Bis ich mich das erste Mal verliebt hatte. Das war in der elften Klasse. Ich war sechzehn und Louise war meine Klassenkameradin. Sie kam neu in unsere Klasse. Kam aus Oberbayern. Sie war hübsch. Sehr hübsch sogar. Und damit für mich eigentlich unerreichbar und tabu. Ich war nichts für hübsche Mädchen. Vermutlich, so dachte ich damals, war ich für überhaupt kein Mädchen irgendetwas. Ich habe mir da nichts vorgemacht. Ich war schmächtig, ich war schwächlich, ich war rothaarig, hatte hängende Schultern, Akne und ständig feuchte Hände. Ich war anders als die anderen Jungs aus meiner Klasse. Nicht so sportlich, nicht so modisch, aber auch nicht so uniform, nicht so über einen Leisten gezogen. Aber ich war nicht sonderlich stolz darauf. Ich war eben anders. Und allein. Und dann kam sie. Louise. Wie gesagt, bildhübsch. Viel zu hübsch für mich. Viel zu hübsch für alle, wie ich fand. Sie schien einfach einer völlig anderen Spezies anzugehören. Sie konnte unmöglich der gleichen Gattung angehören, die so etwas wie mich hervorgebracht hatte. Nein, wir hatten nichts gemein und niemals hätte ich mich getraut, mich mit ihr in irgendeiner Weise gleichzumachen. Aber ich konnte etwas, was sie nicht konnte. Mathematik. Damit hatte sie allergrößte Probleme. Die wunderbare Welt der Zahlen war nicht ihre Welt. Ihre Welt bestand aus Mode, aus Musik und Jungs. Diese Welt war aber nicht meine Welt. Aber ich hatte meine Zahlen. Die beherrschte ich. Die Mathematik. Die verlässliche Ausrechenbarkeit der Wirklichkeit. Die Unbeirrbarkeit mathematischer Wahrheit. Das konnte ich. Und das konnte ich viel besser als alle anderen in meiner Klasse. Louise merkte das schnell. Und sie brauchte Hilfe. Dringend. Denn wenn sie es nicht schaffte, ihre Noten in Mathematik deutlich zu verbessern, drohte ihr die Umschulung auf die Realschule. Ich habe mich ihr damals nicht aufgedrängt. Ehrlich. Ich habe gar nichts gemacht. Das hätte ich auch gar nicht gewagt, nicht gewollt und niemals getan. Louise fragte mich irgendwann in der Pause, ob ich ihr helfen könnte. Ob ich ihr Nachhilfe geben könnte. Sie stand auf einmal einfach neben mir. Ich hatte sie zunächst gar nicht bemerkt, denn ich legte ja immer größten Wert darauf, mich von den anderen abzusondern. Umso unbegreiflicher war es mir, dass sie da plötzlich stand. Ich war völlig von der Rolle. Bisher hatten wir noch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Und nun wollte sie, dass ich sie in die Geheimnisse der Mathematik einweihte. Ich konnte sie weder ansehen noch irgendetwas sagen. Meine Hautfarbe näherte sich meiner Haarfarbe weitgehend an. Ich wollte sterben. Oder wenigstens tot umfallen. Ich hoffte inständig, dass sie nicht mich meinte, dass sie sich nur vertan oder geirrt hatte, dass es sich um einen kolossalen Irrtum handelte, weil mich nie ein Mädchen ansprach, dass ich im Erdboden versinken könnte. Ich hoffte, ich könnte einfach weg sein. Aber das ging nicht. Es ging einfach nicht. Sie meinte wirklich mich. Das machte es nicht besser. Das machte es nicht besser, weil sie mit Sicherheit sofort merkte, merken müsste, dass ich unsterblich in sie verliebt war. Sie musste es merken. Ich merkte es ja auch. Leider. Natürlich hätte ich kein Problem damit gehabt, Louise die Mysterien der Mathematik beizubringen. Natürlich nicht. Das war ein Leichtes für mich. Sie war das Problem. Louise. Sie hatte lange brünette Haare, eine elfenbeingleiche Haut, smaragdgrüne Augen, eine bilderbuchmäßige Figur, wie ich sie nur aus dem Fernsehen oder solchen Magazinen kannte, und einen unbeschreiblich exotisch anmutenden bayrischen Akzent.
Die anderen Jungs aus meinem Jahrgang waren wie elektrisiert von ihr und machten sich regelmäßig zum Affen, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie machten auf coole Macker, sie posierten, protzten und produzierten sich nach Kräften. An Louise perlte das aber ab. Ich machte nichts. Die Mädchen aus unserer Klasse hassten sie, weil sie neben ihr aussahen wie eine Nordsee-Makrele neben einer Mittelmeer-Dorade. Sie hassten Louise. Mir war das alles egal. Ich hielt das alles für lächerliche Balzrituale, die in eine Welt gehörten, mit der ich nichts zu tun hatte. Nichts zu tun haben wollte. Nichts zu tun haben durfte. Diese Welt wollte auch gar nichts mit mir zu tun haben. Ich selbst war das Ausschlusskriterium. Nicht nur die anderen schlossen mich aus, ich schloss mich selbst aus. Einfach, weil ich da war.
Und nun sprach sie mich an. Louise. Mich. Einfach so. Ob ich ihr vielleicht in Mathe helfen könnte? Ich! ICH? Ich war wie erstarrt. In diesem Moment konnte ich nicht mal zwei und zwei zusammenzählen. Geschweige denn war ich überhaupt dazu in der Lage, irgendwie logisch zu denken. Meine Hände schienen zu tropfen, es bildeten sich schlagartige Schweißflecken unter meinen Achseln, ich suchte vergeblich nach irgendwelchen Worten in meinem Kopf, die ich ihr entgegenstammeln könnte, fand aber nichts. Ich konnte sie auch nicht ansehen, starrte nur stur auf meine Füße. Es brannte fürchterlich in meiner Brust und mir wurde schlecht. Es fehlte nur noch, dass ich einnässte. Das blieb ihr aber zum Glück erspart. Ich schämte mich. Ich schämte mich unsagbar dafür, dass ich neben ihr eine so jämmerliche Figur abgab. Es muss unglaublich erniedrigend für sie gewesen sein, mir so nahe gekommen zu sein. Ich wusste einfach nicht, was ich jetzt tun sollte. Irgendwann drehte ich mich einfach um und ging. Ich rannte panikartig vom Schulhof, versteckte mich auf dem Klo und schloss mich ein. Mein Körper zitterte am ganzen Leib, mein Herz schlug Saltos und die Gedanken liefen in meinem Kopf Amok. So fühlte es sich also an, wenn man verliebt ist, schoss es mir in den Sinn. Zumindest, wenn man verliebt ist und das Objekt der Begierde unerreichbar erscheint, weil es Lichtjahre von einem selbst entfernt ist, in weit entlegenen Galaxien zu leben scheint, obwohl es direkt neben einem steht.
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