Der Mann gefiel ihr nicht. Dennoch verwendete sie mehr Gedanken an ihn, als nötig. Nachts hatte sie sich eingeredet, sie habe ihn nur unter denkbar ungünstigen Umständen gewähren lassen, nichts weiter. Dann aber wusste sie, dass das nicht die Wahrheit war. Noch war sie nicht gewillt, ihren ungenauen Gedanken klare Strukturen zu geben. Vorerst versuchte sie, die Dinge auszuleuchten, die sie deutlich zu spüren begann. Sie hatte Menschenkenntnis, wusste, wozu jemand zu gebrauchen war und wozu nicht. Er hatte zugepackt, ohne Aufforderung und ohne zu zögern. Und er brauchte Anerkennung, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Und noch etwas lag genau da drin: Hass auf irgendjemanden oder irgendetwas, dem sie sich sofort auf erschreckende Art verbunden fühlte.
Lola lächelte in sich hinein, schlürfte ihren Kaffee und begann eine Zeitung nach der anderen auf Stellenangebote abzusuchen. Sie hatte einen ganzen Stapel Tageszeitungen aufgetrieben und auch ein altes Branchenbuch, das sie zuerst durchsuchte. Obwohl sie die Entfernung zu den Orten, in denen Pflegeeinrichtungen existierten, nicht einschätzen konnte, malte sie akribisch ihre Kringel.
Um sie herum bestand nur Chaos. Die Schränke waren noch nicht eingeräumt, die Putzarbeiten noch nicht erledigt und der Hunger machte sich auch bemerkbar. Das aber war das kleinere Chaos. Das größere saß tiefer. Solange sie schon telefonierte, es wollte ihr keiner die Chance einer Vorstellung einräumen. Sie schalt sich ob ihrer Zögerlichkeit und hasste sich wegen der angeborenen Zurückhaltung. Sie sollte auftrumpfen, sich besser verkaufen. Das war die oberste Regel dieser Zeit, die sie noch immer nicht beherrschte.
Je weiter der Tag fortschritt, desto fahriger wurde sie, und die Zeit schien ihr genauso schnell davonzulaufen, wie das letzte Geld, das Paul noch nicht versoffen hatte. Erst am späten Nachmittag nahm sie einen Imbiss zu sich, den sie stehend in der Küche verschlang. Und dabei kam ihr die beste Idee, die sie je im Leben gehabt hatte.
Einen der Kringel hatte sie um die Anzeige einer Seniorenresidenz gemalt, die sich »Am Sandberg« nannte. Was immer das bedeuten sollte – hier gab es keine Berge. Die Gegend war flach wie eine Flunder. Da am Sandberg wollte sie ihre Idee anbringen, über die sie sich wunderte und über die sie sich zugleich beglückwünschte. Verkauf dich so gut es geht, Lola!
Die Nummer war lang, und das Freizeichen klang dumpf. Nach dem vierten Ton hörte sie die Stimme einer jungen Frau - hell und sehr freundlich: »Seniorenresidenz Am Sandberg, Anja Krüger, was kann ich für Sie tun? «
Lola musste sich nicht verstellen, sie war atemlos in diesem Moment, der kein normaler Moment ihres Lebens war, das schwor sie vor sich selbst.
»Guten Tag. Gertrud Willumeit ist mein Name. Ich rufe vom Pflegestift Sankt Johannes in Magdeburg an. Entschuldigen Sie die Störung. Ich brauche Ihre Hilfe. Bei Ihnen hat sich eine ehemalige Pflegerin unseres Stifts beworben, soviel ich weiß. Leider. Nun ja, ich will es kurz machen. Ich brauche unbedingt Kontakt zu ihr.«
Eine Sekunde Schweigen. Eine Sekunde, die den Herzschlag in die Unentschlossenheit trieb.
»Wenn es um Bewerbungen geht, kann ich Ihnen nicht helfen, aber ich verbinde Sie gerne weiter.«
Mehr als eine Minute drang blechern und aufdringlich die kleine Nachtmusik von Mozart an ihr Ohr. Dabei fragte sie sich immer wieder, was sie überhaupt tat. Im Zeitalter moderner Technik konnte man schließlich sehen, woher ein Anruf kam. Vorher wie nachher, falls ein Interesse bestand. Sie musste unbedingt daran denken, vom Betreiber schnellstens ihre Nummer verbergen zu lassen, unbedingt. Das hatte mehrere Vorteile, über die sie jetzt nicht weiter nachdenken wollte. Nur über eines dachte sie nach: Jetzt könnte sie noch auflegen.
»Um eine Bewerbung geht es?« Die neue Stimme klang gestresst und weniger fröhlich.
»Nicht direkt. Nicht ich will mich bewerben. Ich suche nach meiner bisher besten Pflegekraft Lola Gardner. Die hat sich bei Ihnen beworben und ich muss sie unbedingt sprechen. Sie bekommt noch einen Teil ihres letzten Monatslohnes von uns.«
»Tut mir leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Eine solche Bewerbung hatten wir nicht.«
Lola gab Laute von sich, die hoffentlich verzweifelt klangen.
»Ach«, hörte sie vom anderen Ende. »Wenn es um Geld geht, dann meldet die sich schon bei Ihnen. «
»Sie kennen Lola nicht. Entschuldigung, Sie sind meine letzte Rettung. Wenn Lola bis jetzt noch nicht da war, dann kommt sie noch. Ganz bestimmt. Es sei denn, eine andere Einrichtung hat sie Ihnen schon weggeschnappt. Aber wenn sie kommt, könnten Sie ihr bitte etwas ausrichten … «
»Was soll das heißen – weggeschnappt?« Die Worte klangen jetzt freundlicher. Lola blieb einen Moment länger stumm, als sie es auszuhalten glaubte. Dann ließ sie heiße Luft gegen die Sprechmuschel strömen und gestand sehr brav:
»Ich rede gewöhnlich nicht über jemanden, der sich nicht rechtfertigen kann. Aber ich rede ja nicht schlecht. Wenn Lola Gardner nicht zu Ihnen kommt, kann ich Sie nur bedauern. Lola hat etwas, das schafft keine andere. Aber das finden Sie früh genug selbst heraus, sofern Sie das Glück haben ... «
»Heißt das, Sie bedauern den Weggang dieser …?«
»Lola Gardner? Sehr sogar. Und Lola bedauert ihn auch. Aber die Gesundheit und das Leben ihres Mannes gingen ihr vor. Das muss man akzeptieren. Sie war die Beste, die wir je in der Männerabteilung hatten. Das lag wohl auch daran, dass sie ganz persönliche Erfahrungen im Umgang mit ihrem hilflosen Mann gesammelt hatte. Das Leben ist hart. Wer weiß das besser als wir, nicht wahr?«
»In der Tat. Ich werde dieser Frau – wie hieß sie doch gleich?«
»Gardner heißt sie übrigens noch immer.«
»Natürlich. Dieser Frau Gardner richte ich es aus, wenn sie vorsprechen sollte.«
»Mit wem habe ich gesprochen?«
»Hegewald. Ich bin die Heimleiterin.«
»Herzlichen Dank, Frau Hegewald, und entschuldigen Sie meine Bitte.«
Lola ordnete das Chaos, das nun auch in ihrem Kopf herrschte, mit einem Lächeln. Manchmal sind solche Wege unumgänglich. Zu dumm, dass eine Anruferin aus Magdeburg nicht danach fragen konnte, wo genau die Adresse Sandberg zu finden war, aber dafür würde es irgendwo einen hilfsbereiten Menschen geben.
Im Augenblick war sie nichts als erleichtert. Wenn ihre Bewerbung jetzt nicht von Erfolg gekrönt sein würde, dann brauchte die Einrichtung wirklich keine Leute, was aber angesichts der miesen Bezahlung und angesichts der ständig anwachsenden Pflegebedürftigkeit generell kaum anzunehmen war.
Der peinliche Moment der Lüge war schnell vergessen, und in Lola meldete sich die Stimme der Vernunft. Sie war überzeugend gewesen, ohne Frage. Wenn sie aber ehrlich zu sich war, dann hatte sie in einem anderen entscheidenden Moment versagt. Wer nicht nett zu den Menschen ist, die gut zu einem sind, der muss später schwer zu Kreuze kriechen. Dieser Moment sagte ihr sehr deutlich, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, zu diesem Suffi zu gehen und ihn zu fragen, wie man zur Adresse Am Sandberg kommt. Andere Nachbarn kannte sie nicht. Tatsächlich ging sie sofort zur Tür, doch da war noch ein Fehler, den sie begangen hatte. Sie hatte ihn nicht danach gefragt, wo er wohnte oder wie er hieß. Es war wieder diese verflixte Oberflächlichkeit, die sie in ihrer verkorksten Kinderstube in die Wiege gelegt bekommen hatte. Die Gründe spielen keine Rolle, wenn man versagt. Allein das Versagen ist entscheidend. Und darin musste Lola Gardner für ihr neues Leben noch höllisch viel lernen.
Der Moment kam eher als erwartet. Gerade hatte sie Kaffee angesetzt und sich eine Zigarette angezündet, als ein kurzer Ton sie erschreckte. Noch nie hatte einer an ihrer Tür geläutet und sie wusste nicht, ob es an der Haustür oder an der Wohnungstür gewesen war. Auf blanken Füßen schlich sie in den Flur und blinzelte durch den Spion. Ein kleiner Schreck fuhr durch ihre Glieder und sie fragte sich, was eigentlich mit ihr los war. Ihre Unsicherheit war wieder da, die weit über das Maß hinausging, das sie für den Augenblick als normal bezeichnen konnte. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie geschworen, diesen Kerl schickte der Himmel. Aber gerade der konnte es nicht sein. Nicht der Himmel und nicht für sie.
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