Die Dämmerung sank wie ein dunkles Tuch über die Welt. Immer mehr Sterne zeigten sich. Ein schwaches, milchiges Band bog sich hoch über den Himmel wie ein Regenbogen. Sternschnuppen ritzten schnell wie Blitze schnurgerade Furchen in das Firmament.
Was hätte sein Vater ihm geraten? Daedor hatte ihn mit Strenge und Konsequenz, aber stets gerecht erzogen. Wenn der Junge etwas angestellt hatte, bestrafte ihn Daedor erst, nachdem er ihn nach seinen Beweggründen gefragt hatte. „Warum hast du das getan? Erklär es mir.“ Manchmal hatten sich Traigars Gründe als gut genug erwiesen, um der Strafe zu entgehen. Und in den anderen Fällen bewirkte die Frage immerhin, dass der Junge über seine Taten nachdachte und seine Fehler einsah. Daedor hatte ihm erklärt, er sei für sein Tun verantwortlich und habe die Folgen zu akzeptieren, aber jeder Mensch müsse Fehler begehen, denn ohne Fehler könne er nicht lernen, im Leben zurechtzukommen. Aber das hieße auch, man sollte einen Fehler nicht zweimal begehen, denn das bewies, man hatte nichts aus ihm gelernt.
Heute hätte er seinem Sohn wahrscheinlich den Rat gegeben, sein Handeln nicht nur auf das Vertrauen zu einem einzelnen Menschen zu gründen. Gadennyn hatte dieses Vertrauen missbraucht. Manche Taten erwiesen sich als so folgenschwer, dass man nur handeln durfte, wenn man sich absolut sicher fühlte. Traigar fragte sich, ob er jetzt nicht in die gleiche Falle lief. Konnte er Gormen, Duna und den anderen des Schwarzen Ordens wirklich trauen? Akzeptierte er das Tagebuch von Semanius als Beweis? Konnte es Nunoc Baryth nicht gefälscht haben, um ihn wieder zu täuschen? Dagegen sprach die Tatsache, dass der Schwarze Abt ja nicht ahnen konnte, dass Traigar und seine Freunde kommen würden, um ihn zu töten. Wieso sollte er dann Beweise fälschen? Nein, das Tagebuch musste echt sein. Außerdem hatte Gother ja Gadennyns Identität als Semanius zugegeben. Diesmal konnten kein Irrtum und keine Täuschung vorliegen.
Sein Vater hätte ihm sicher erklärt, für moralische Menschen gebe es oftmals keine freie Wahl. Sie müssten das tun, was ihr Gewissen ihnen befehle. Aber das Gewissen allein konnte nicht immer die richtige Entscheidung treffen. Traigar wusste: Hätte er auf die erste innere Stimme gehört, die seiner Grundüberzeugung, dass es falsch ist, einen Menschen zu töten, wäre Nunoc Baryth jetzt noch am Leben. Aber Gother hatte ihn – wahrscheinlich unbewusst – manipuliert: Der Hauptmann hatte sich bei seinem Anschlag auf den Schwarzen Abt selbst in Gefahr begeben, von diesem getötet zu werden und hatte Traigar so in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Und der hatte sich leider falsch entschieden: für das Leben Gothers und gegen das Nunoc Baryths. Jetzt sah er seinen Weg klar vor sich. Die Tatsachen belegten: Gadennyn stellte als der wiedergeborene Semanius eine große Gefahr für die Menschheit dar. Traigars Gewissen konnte sich auf diese Erkenntnis stützen. Er würde dem vorgezeichneten Weg folgen.
Inzwischen hatte sich Dunkelheit über das Tal gelegt. Im Kloster leuchteten die Fenster der Wohngebäude, und ein paar Öllampen an hohen Pfosten warfen ihr gelbes Licht auf den Innenhof. Hier oben am Hang konnte der auf dem Findling sitzende Traigar kaum den Erdboden am Fuß des Felsens erkennen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und der junge Magier fragte sich, wie er ohne zu stürzen die Böschung hinabsteigen sollte. Da entdeckte er das flackernde Licht einer bewegten Fackel, deren Träger eben diesen Hang hinaufkletterte. Die tanzende Flamme erreichte den Rand des Plateaus und kam direkt auf ihn zu. Ihr Lichtschein beleuchtete eine zierliche Gestalt in einer grauen Kutte. Die Kapuze war zurückgeschlagen, und Traigar erkannte Duna. Einen Augenblick später stand sie vor ihm.
„Ich dachte, ich hole dich ab, bevor du dir in der Dunkelheit ein Bein brichst“, erklärte sie.
Sie saßen nebeneinander auf dem großen, runden Felsen. Duna hatte die Fackel in die Erde am Fuß des Findlings gesteckt. Sie lieferte dort unten kaum Licht und keine Wärme. Traigar fröstelte in der Kühle der Nacht. Der jungen Frau schien die Kälte hingegen nichts auszumachen. Sie zog die Knie bis ans Kinn, legte die Arme um ihre Unterschenkel und blickte ihn an.
„Du solltest nicht alleine grübeln. Ich weiß, wie schwer alles für dich ist. Lass uns darüber reden.“
Überrascht und verbittert lachte Traigar auf.
„Aber du magst mich nicht! Wie könnte ich jemandem mein Herz ausschütten, der mich, den Mörder deines Herrn und väterlichen Freunds Nunoc Baryth, hasst und verachtet?“
Duna seufzte.
„Ich hasse dich nicht, Traigar. Ich habe über das, was geschehen ist, lange nachgedacht. Du hast einen schweren Fehler begangen, indem du einen Unschuldigen getötet hast. Aber wie könnte ich dich verurteilen, da ich doch beinahe den gleichen Fehler gemacht hätte?“
„Den gleichen Fehler? Was meinst du damit?“
„Ich wollte dich töten, nicht nur umbringen, sondern qualvoll verbrennen! Dein Tod sollte eine grausame Strafe für dein Verbrechen sein. Aber deine Magie hat das Feuer von deinem Körper ferngehalten. Du musst den Flammen die Nahrung entzogen haben, indem du die Luft zur Seite gedrückt hast. Sie konnten deinen Körper nicht erreichen, aber gleichzeitig hast du dir damit die Luft zum Atmen genommen und bist ohnmächtig geworden.“
„ Ich habe mich mit Magie verteidigt? Das war mir gar nicht bewusst. Ich glaubte, du hättest mich verschont.“
„Nein, ich hätte dich getötet, wenn ich gekonnt hätte. Als du zu Boden stürztest, dachte ich, du wärest tot und erstickte die Flammen, damit der Turm kein Feuer fing. Dann habe ich mich sehr gewundert, denn du hast keine nennenswerten Verletzungen davon getragen. Lediglich ein paar Haare hat das Feuer angesengt. Gut, dass Gormen in diesem Augenblick hereinkam, sonst hätte ich dich doch noch umgebracht.“
„Aber welchen Fehler hast du denn gemacht? Ich verstehe immer noch nicht.“
„Ich sagte doch: den gleichen Fehler wie du. Ich habe versucht, einen Menschen zu töten, ohne zu wissen, ob er den Tod verdient hat. Ich habe mich nur von meinen Rachegefühlen, nicht von den Tatsachen leiten lassen.“
Traigar nickte nachdenklich.
„Dann haben wir beide etwas daraus gelernt. Glaub mir, ich würde alles dafür geben, um Nunocs Tod ungeschehen zu machen.“
„Und ich hatte lediglich Glück, dass ich weniger erfolgreich war als du. Ich habe meine Meinung über dich geändert, Traigar. Du bist zwar nicht schuldlos, aber deine Schuld ist, in Anbetracht der Täuschung durch Gadennyn und des Verrats von Gother an euch, gering. Mir steht es zwar nicht zu, dir zu vergeben, denn ich hätte an deiner Stelle kaum anders gehandelt, aber Nunoc würde dir verzeihen, da bin ich sicher. Wir müssen jetzt in die Zukunft schauen. Wir beide sollen gemeinsam die Schwarzen Kämpfer nach Süden führen, Tausende von Gleichgesinnten um uns scharen und eine Armee gegen Gadennyn aufstellen. Deshalb müssen wir uns vertrauen und uns auch … mögen.“
Traigar blickte die junge Feuermagierin an. Im schwachen Schein der Fackel konnte er ihre Gesichtszüge kaum erkennen, aber ihre Augen glänzten weich. Eine warme Welle der Zuneigung überflutete ihn.
„Ich mag dich, Duna! Ich glaube, ich habe dich schon gemocht, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Weißt du noch, in Shoal? Ich habe gleich gemerkt, dass du eine Magierin bist. Du ahnst gar nicht, welche Hochgefühle das in mir geweckt hat. Ich fühlte mich auf einmal nicht mehr allein, würde mit jemandem sprechen können über diese Kraft, die von denen, die sie nicht beherrschen, als dämonisch verurteilt wird. Es schien mir, als hätte ich in der Wüste eine Quelle gefunden. Als du plötzlich verschwunden bist, fühlte ich mich sehr enttäuscht. Ich habe dich überall in der Stadt und außerhalb gesucht. So sehr habe ich mir gewünscht, dich wiederzufinden. Und endlich, da es mir gelungen war, stand auf einmal der Tod Nunoc Baryths zwischen uns. Ich habe mich dafür verflucht.“
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