„Ich traue diesem Dremion nicht. Vielleicht ist der Hinweis auf Khor nur eine Finte. Wir folgen weiter der Fährte. Irgendwann muss er ja einmal schlafen“, erwiderte Grom.
Der dritte Reiter hatte etwas entdeckt und zeigte nach vorne, hoch in die Luft:
„Schaut mal da.“
Grom sah es auch: In der Ferne, weit jenseits des Punktes, an dem die Spur sich verlor, kreisten Vögel am Himmel. Aaskrähen!
Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatten sie den Ort erreicht. Ihr Kommen verscheuchte die Krähen vom Kadaver eines Pferdes. Die starren Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Die Zunge hing heraus. Das Fell war verklebt von getrocknetem Schweiß.
„Er hat es zuschanden geritten“, meinte einer von Groms Begleitern. „Jetzt muss er umso mehr achtgeben auf das ihm noch verbliebene Tier.“ Grom nickte zustimmend.
„Er muss nun langsamer reiten, um das Pferd schonen. Vielleicht holen wir ihn ja doch noch ein.“
Myria, die Heilerin, trat ein und unterbrach die Versammlung. „Winger ist zu sich gekommen“, berichtete sie freudestrahlend. Alle erhoben sich und folgten ihr zum Krankenzimmer. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einem kleinen, fremdländisch aussehenden Mann. Die eingefallenen Wangen, aus denen die Backenknochen hervortraten, das schüttere graue Haar, die tiefen Runzeln im Gesicht und die Krähenfüße um die Augen ließen auf ein Alter jenseits der Siebzig schließen. An seinem Kinn spross ein dünnes Ziegenbärtchen. Der Greis trug derbe Reiterkleidung aus Ziegenfell: eine Hose, bis zu den Knien reichende Schnürstiefel und eine Weste. Darunter war sein Oberkörper nackt, und die Rippen traten unter der Haut hervor. Der Mann lächelte freundlich. Seine mandelförmigen, wachen Augen leuchteten jadegrün. Gormen blieb ein paar Schritte vor dem Alten stehen und verbeugte sich respektvoll, bevor er Worte in einer den Koridreanern unbekannten Sprache an ihn richtete. Sie klang anders als das Vulcoranisch, das sie bisher gehört hatten. Nach einer kurzen Unterhaltung verbeugten sie sich nochmals voreinander, und der Mann trat aus einer Tür hinaus ins Freie.
„Wer war der Fremde, und aus welchem Land kommt er?“, erkundigte sich Dremion.
„Der Fremde?“, Gormen schien amüsiert. „Nur weil du die Sprache nicht kennst und er anders aussieht als du und ich, muss er doch kein Fremder sein. Im Gegenteil. Vulcor ist sein Land, und wir waren einst die Fremden, die in es eingedrungen sind. Du bist gerade dem Schamanen der Pferdeleute begegnet. Seine Vorfahren haben schon lange vor uns diese Gegend besiedelt.“
„Hat er Winger heilen können?“, fragte Traigar.
„Er hat alles für ihn getan, was möglich schien, sagt er. Den Rest müsse die Zeit heilen. Winger soll noch für einige Tage das Bett hüten. Er ist schwach, und es wird dauern, bis er sich vollständig erholt hat. Bald wird der Schamane wieder nach ihm sehen. Jetzt geht er zurück zu seinen Leuten.“
„Der Heiler der Yauqui! Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.“ Cora wollte dem kleinen Mann nacheilen, aber Gormen hielt sie zurück. „Falls du von ihm lernen willst, so muss ich dir leider sagen, er wird seine Kenntnisse nicht mit dir teilen. Spar dir also die Mühe, ihn auszufragen.“
Cora schien enttäuscht. „Aber warum macht er ein Geheimnis daraus? Alle Heiler sollten ihr Wissen miteinander teilen, um den Kranken und Verwundeten besser helfen zu können.“
„Es hat etwas mit seiner Religion zu tun. Das Pferdevolk glaubt an Naturgötter. Thishi ist der Gott der Erde, Rakh beherrscht das Wasser, Roghon die Luft. Und unter diesem Dreigestirn tummeln sich noch Tausende geringere Götter: In jeder Wurzel, jedem Strauch, jeder Quelle wohnt ein Geistwesen, das die heilsamen Kräfte des von ihm Beseelten an die Schamanen weitergibt. Die Tränke, Rezepte, Arzneien und Rituale wirken aber nur – so glauben sie jedenfalls –, wenn der Heiler an die ihnen innewohnenden Gottheiten glaubt. Deshalb macht es für einen Schamanen keinen Sinn, seine Geheimnise Andersgläubigen zu offenbaren. Die Heilmittel wären wirkungslos, vielleicht sogar schädlich.“
Kurz darauf hatten sie sich alle um das einzige Bett im Krankenzimmer versammelt, in dem ein totenblasser Winger lag. Er schien die Nähe seiner Gefährten zu spüren. Flatternd öffneten sich seine Augenlider. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er zu dem über ihn gebeugten Traigar aufblickte. Er wandte mühsam den Kopf und sah nun auch seine anderen Freunde einträchtig neben den Schwarzen Mönchen stehen. Das Lächeln verschwand. Ängstlich versuchte er, sich zu erheben, sank aber gleich wieder geschwächt in sein Kissen zurück. „Was ist geschehen?“, fragte er mit kaum vernehmlicher Stimme. Gormen antwortete in beruhigendem Tonfall:
„Hab keine Angst. Du bist hier unter Freunden. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Deine Fragen beantworten wir, sobald du dich etwas kräftiger fühlst.“
***
König Bredos hatte in seinen besten Jahren etwas Königliches ausgestrahlt: Sechseinhalb Fuß groß und muskulös, mit leuchtenden Augen und einem Vertrauen erweckenden Lächeln, besaß er das Charisma des geborenen Führers. Das Volk betete ihn seit seinem glorreichen Sieg über Orinokavo an, als er selbst die Armee in die entscheidende Schlacht geführt hatte. Seine diplomatischen und politischen Fähigkeiten konnten mit seiner Beliebtheit nicht mithalten, aber er besaß genug Menschenkenntnis, sich gute Berater auszusuchen, und den Verstand, auf sie zu hören. Deshalb hatte er sich in der Vergangenheit als erfolgreicher Herrscher erwiesen und sich seinen ehrenvollen Platz in den Geschichtsbüchern redlich verdient.
Doch das war lange her. Sein Niedergang hatte vor fünfzehn Jahren begonnen. Damals hatte ihm seine Frau den lang ersehnten Thronfolger geschenkt, starb aber im Kindbett am Fieber. Bredos war außer sich. Seine Trauer wirkte tief und echt, obwohl er jedes halbwegs ansehnliche weibliche Wesen, das am Hof Dienst tat, in sein Bett geholt hatte. Alle kannten den König als Schürzenjäger ohnegleichen, dennoch hatte er seine Königin geliebt. Nach ihrem Tod entsagte er den körperlichen Gelüsten vollständig und rührte keine Frau mehr an.
Der zweite schwere Schlag traf ihn erst vor zwei Jahren: Sein Sohn stürzte bei einem Jagdausflug vom Pferd und brach sich den Hals. Wieder fühlte sich Bredos verzweifelt. Gramgebeugt alterte er schnell und verfiel immer mehr. Er weigerte sich, dem Rat der Hofbeamten zu folgen und wieder zu heiraten, und selbst wenn er sich eine neue Frau genommen hätte, er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, ein Kind zu zeugen. Das Reich hatte nun keinen Thronerben. Nach Bredos’ Tod würde das Haus der Lords zusammentreten und einen neuen König aus seiner Mitte wählen. Seine potentiellen Nachfolger wetzten schon Messer.
Als der König zunehmend senil wurde, begannen einige der mächtigen Fürsten, seine Berater und Hofbeamten zu bestechen und zu kaufen. Man konnte ja nicht wissen, wie lange der alte Mann noch lebte. Bis zu seinem sehnsüchtig herbeigewünschten Ende durfte nicht alles aus der Bahn geraten, der Machtwechsel musste gut vorbereitet sein. Die Berater entmündigten den greisen König praktisch und herrschten an seiner statt, gelenkt von Marionettenfäden, die die mächtigsten der Fürsten in den Händen hielten. Und natürlich versuchten diese, einander auszustechen. Bald kam es zum offenen Machtkampf zwischen ihren Handlangern am Hof, die sich gegenseitig ausmanövrierten und absetzten.
Zu diesem Zeitpunkt sandte Lord Gadennyn seinen Vertrauten Aturo Pratt an den Hof. Pratt war gerissen und sein Herr mächtig, und so stieg er rasch in der Hierarchie der Hofbeamten auf. Im Gegensatz zu den anderen Intriganten, die den schwachen König bei ihren Entscheidungen einfach ignorierten, schlich sich Pratt in dessen Vertrauen ein, bekundete ihm seine Loyalität. Er berichtete Bredos von den Intrigen und Machtkämpfen, die sich hinter seinem Rücken am Hof abspielten, wie das Land vor die Hunde ging, die sich schon um Knochen stritten, welche noch gar nicht vom Tisch gefallen waren. Der alte Herrscher hatte ab und zu noch lichte Momente, und in einem dieser selten gewordenen Augenblicke erkannte er, wie sehr man ihn hinterging. Das versetzte ihn in rasenden Zorn, und noch einmal ließ er seine frühere Autorität spüren. Er entließ die meisten der illoyalen Beamten, jagte die Berater vom Hof und ernannte Aturo Pratt zum Kanzler einer neuen Regierung. Der ehemalige Sekretär Gadennyns, seinem früheren Herrn durch dessen Wissen über den Mord an Wingers Frau zu Gehorsam verpflichtet, besaß nun freie Hand. Die anderen Fürsten schäumten.
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