Ich verstehe endlich die Worte meines Traums. Die Sprache ist mir nun nicht mehr unbekannt. ES ruft mich. ES will sich mit mir vereinen. Oh, wie ich mich danach sehne. ES verspricht mir viel mehr als eine Herrschaft über dieses armselige Land. SEINE Macht und meine Macht zusammen können die Feste der ganzen Welt erschüttern. Vereint sind wir größer als Wathan!
Aber ich weiß immer noch nicht, woher ES mich ruft, wohin ich kommen soll.
Draußen wüten meine Feuerwände und haben jeden ihrer Versuche abgewehrt, hier einzudringen, um mir das Wertvollste zu stehlen, das ich besitze. Ich habe alle meine Getreuen weggeschickt. Ich kann es nicht mehr ertragen, dieses kriecherische Menschengewürm! Sollen sie überlaufen oder verrotten, mir ist es gleich. Ich warte auf SEINE Eingebung. Ich spüre, wie nahe ES mir schon ist. Ich meditiere und fühle die immer stärker werdende Verbindung zwischen uns, eine Nabelschnur, die mir Energie gibt und meinen Geist nährt. Ich taste mich an dieser Schnur entlang, um die Leben spendende Plazenta zu finden, die in IHM ruht. Ich spüre SEINE Kraft stärker und stärker werden. Wo bist DU, damit ich zu DIR gehen kann?
Ich habe ES gefunden! Was war ich doch mit Blindheit geschlagen! Ich fand ES in meiner Jugend am Ufer eines Flusses, oder besser: ES fand mich! ES ist über all die Jahre bei mir gewesen. Nun ist die Zeit reif für unsere Vereinigung, aber dieses Gewürm dort draußen darf uns nicht dabei stören. Ich werde einen anderen Ort aufsuchen. Dort soll es geschehen.“
Gormen blickte wieder auf. In der geheimen Bibliothek lastete eine Stille, in der man eine Daunenfeder hätte fallen hören können. Er hob das aufgeschlagene Buch hoch und zeigte ihnen eine detaillierte Landkarte, mit feinen Federstrichen gezeichnet und mit Landschaftsmerkmalen bebildert.
„Dies ist die letzte Eintragung von Semanius. Die Karte zeigt einen Weg in die Berge, an dessen Ende ein mit einem Kreuz bezeichneter Ort liegt, die Höhle, wo er sich das Leben in einem von ihm selbst entfachten Feuersturm nahm. Die Magier, angeführt von der Königin, verfolgten ihn bis dorthin. Aber sie fanden nur noch seinen verbrannten Leichnam. Sie verschlossen die Höhle und kehrten zurück. Die restlichen Schlussfolgerungen überlasse ich euch.“
Nach einer kurzen Weile schweigenden Nachdenkens fasste Boc das Offensichtliche zusammen:
„In diesem schwarzen Edelstein, den er im Fluss gefunden hat, wohnte ein magisches Wesen, dieses ES, die Macht, mit der er sich vereinigen wollte.“
„Ein Dämon vielleicht?“, wunderte sich Cora.
Gormen Helath nickte. „Ein mächtiger Dämon, ein Wesen aus der Unterwelt, wer weiß? Jedenfalls ist eines offensichtlich: Semanius mag in jungen Jahren ein begabter Magier gewesen sein, aber von außergewöhnlichen Kräften berichtete man erst später. Er hat sich schnell – zu schnell – entwickelt, nachdem er den Stein fand. Und er ist mächtiger geworden als je ein Magier vor ihm. Das Amulett hat ihm diese Macht verliehen, das steht außer Zweifel. Zuerst dachte Nunoc Baryth, als er in dem Buch las, es handele sich bei dem schwarzen Stein um ein magisches Artefakt, das ein mächtiger Magier in grauer Vorzeit angefertigt hatte, aber dann erwähnte Semanius die Stimme, die ihn rief. Selbst der Lordmagier hat lange gebraucht, um zu erkennen, woher sie kam. Ja, ihr habt recht. Entweder ist der Stein selbst ein höheres Wesen, oder dieses wohnt in ihm.“
„Die Höhle: Hat sie jemand von euch aufgesucht?“, erkundigte sich Spin.
Gormen nickte: „Nunoc Baryth und ich haben sie gefunden. Und wir haben ein Skelett darin entdeckt.“
„Und das Amulett?“, wollte Traigar wissen. „Lag es ebenfalls in der Höhle?“
„Nein.“
„Aber Semanius hat es doch sicher getragen, um sich mit IHM im Tode zu vereinigen. Und die Magier haben die Höhle verschlossen. Also müssen sie es mitgenommen haben.“
Das glaube ich nicht“, antwortete Gormen. „Hätte es einer der Magier an sich genommen, so hätte er unglaubliche magische Macht erlangt. Doch davon müssten wir gehört haben. Nein. Sie haben die Höhle verschlossen, und das Amulett blieb an der Kette um den Hals des Toten. Aber als wir dem Weg auf der Karte von Semanius folgten und die Höhle fanden, war der Eingang freigelegt, und die Grabungen schienen noch gar nicht so lange zurückzuliegen. Ein anderer hat das Amulett gefunden.“
Boc riss die Augen auf. „Athlan?“
„Zweifellos. Als Athlan Gadennyn zu uns kam, trug er eine Kette um den Hals. Sie war geschwärzt, aber an einer Stelle glänzte das blanke Silber unter der Tarnfarbe. Das Amulett hatte er in einem Lederbeutel verborgen. Uns sagte er, in dem Beutel sei ein Andenken seines Vaters.“
„Lord Gadennyn trägt ja ebenfalls eine Kette mit einem Medaillon!“ Traigar fiel es wie Schuppen von den Augen. „Es sieht allerdings anders aus, als das, welches in Semanius’ Tagebuch beschrieben ist. Die Fassung stellt einen Tigerkopf dar. Aber der trägt in seinem Maul einen schwarzen Stein!“
„Gadennyn hat seinen Goldschmied wohl beauftragt, den Stein neu zu fassen, denn auf ihn allein kommt es an, nicht auf den Tand drum herum“, meinte Cora.
„Dann ist also die Macht von Semanius und dieses Wesens auf ihn übergegangen. Er muss jetzt mindestens ebenso mächtig sein wie damals der Lordmagier. Wie sollen wir bloß gegen ihn bestehen?“ Traigars Stimme klang mutlos.
„Wir finden einen Weg“, gab sich Gormen zuversichtlich.
Am nächsten Tag trafen sie sich erneut im Meditationsraum, den Gormen Helath wegen seiner hellen, freundlichen Atmosphäre schätzte. Doch durch die hohen Fenster drang heute nur trübes Licht von einem bleiernen Himmel. Draußen regnete es schon seit Stunden. Ein kalter Wind peitschte den Regen durch die unverglasten Fensteröffnungen, sodass Gormen die Läden schloss. Nun saßen sie bei Kerzenlicht im Kreis auf den Sitzkissen.
Der Ordensführer eröffnete die Versammlung.
„Bevor wir beginnen, möchte ich gerne wissen, wie es Winger geht. Cora, du hast dich doch um ihn gekümmert?“
„Myria und ich haben uns abgewechselt. Er ist noch nicht bei Bewusstsein und schwebt immer noch in Lebensgefahr. Heute Morgen ist der Schamane der Nomaden eingetroffen. Ich verstehe seine Sprache nicht, aber Duna sagt, er sei überzeugt, er könne Winger retten.“
„So lasst uns ein stilles Gebet für ihn sprechen. Jeder möge in seinen Worten und Gedanken bei Wathan um seine Genesung bitten.“
Sie senkten die Köpfe, und Traigar dachte an den Mann, dessen Lebensweg vom Unglück geleitet schien: der frühe Verlust der Eltern, die harte Kindheit und Jugend, seine Trunksucht, der Tod seiner Frau, an dem er sich schuldig fühlte, die falschen Entscheidungen, die der Baumeister immer wieder getroffen hatte, bis hin zu seinem letzten fatalen Fehler, der Befreiung Gothers. Gott schien es nicht gut mit ihm zu meinen. Traigar sprach eine stille Fürbitte und bat Wathan, Wingers Leben zu verschonen.
Sie wurden aus ihrer Andacht gerissen, als ein Rabe draußen krächzte und ein wütender Kater ihm fauchend antwortete. Gormen ergriff wieder das Wort:
„Wir sind zusammengekommen, um die Gefahr, die Athlan Gadennyn darstellt, einzuschätzen und uns zu überlegen, wie wir sie abwehren können.“
Legis, einer der Schwarzen Kämpfer, schlug vor:
„Wenn wir unseren Feind besiegen wollen, sollten wir uns klarmachen, wer er ist. Wir Ordensleute kennen ihn als Athlan, den Novizen, der mit uns gemeinsam betete, aß, trank und schlief. Für Traigar und seine Freunde ist es Lord Gadennyn, ein Fürst ihres Landes, aber für all die Menschen, die er bedroht, ist er die Reinkarnation des Lordmagiers Semanius. Ich schlage vor, wir nennen ihn bei diesem Namen.“
Читать дальше