„Etwas wiedergutmachen?“
„Es stimmt, was du sagst: Du hast Gother mehr vertraut als alle anderen, doch du konntest nicht anders, denn du hattest ihm als deinem Vorgesetzten einen Treueeid geleistet. Aber Gother hat Winger fast umgebracht! Wir müssen euren Freund, den Baumeister, zurücklassen. Wie, glaubst du, wird er sich fühlen, allein unter den Schwarzen Brüdern und Schwestern, von denen kaum jemand seine Sprache spricht? Er, der einen Mörder befreit hat, der glaubt, er habe während eurer ganzen Mission immer nur versagt, habe stets das Falsche getan, trage die Schuld an allem, was schiefgegangen ist. Sobald er erfährt, dass Nunoc Baryth ein unschuldiges Opfer war, sein Herr Gadennyn, dem er jahrelang gedient hat, der wahre Feind der Menschheit ist, und dass Gother, der Mörder, der Dank seiner Hilfe entkommen konnte, jetzt Semanius warnen kann, wird er in tiefe Verzweiflung fallen. Dann wäre niemand da, ihm zu helfen. Einer von euch muss um seinetwillen hier bleiben!“
Dremion brauchte eine Weile, um darüber nachzudenken, dann nickte er:
„Ihr habt recht, Abt Helath. Ich sollte etwas davon wiedergutmachen, was der, dem ich vertraute, angerichtet hat. Ich bleibe und kümmere mich um Winger. Aber sobald er genesen ist, folge ich Traigar, und ich hoffe, Winger wird mit mir kommen.“
„Ich danke dir, Dremion“, erwiderte Gormen. „Aber ich bin – ungeachtet deiner Anrede, mit der du mich ehren wolltest – nicht der Abt des Ordens.“
Teuben ergriff das Wort:
„Das ist ein Punkt, der mich nicht froh stimmt, Gormen. Du bist zwar noch nicht unser Abt, aber du solltest es werden. Ich verstehe, dass du diesen Kampf auch zu deinem machen willst, aber dennoch: Du bist unser zukünftiger Führer! Nunoc Baryth hat dich auserwählt. Du musst den Orden leiten. Wenn du fortgehst, will ich als dein Stellvertreter das Kloster bis zu deiner Rückkehr führen, aber ich bin nicht für dieses Amt ausersehen.“
„Niemand ist dazu ausersehen, Teuben. Der Abt unseres Ordens wird gewählt und nicht ernannt. Ja, Nunoc hat mich vorgeschlagen, aber er wollte damit den Orden nicht bevormunden. Du warst es, der ihn drängte, einen Stellvertreter zu benennen! Erinnerst du dich? Und du weißt auch, warum er mich vorgeschlagen hat. Nicht weil er mir mehr vertraute oder mich für fähiger hielt als einen anderen unseres Ordens. Du wärest in vielen Punkten geeigneter für das Amt: Du bist älter, klüger, erfahrener. Wäre Nunoc Baryth in seiner Entscheidung frei gewesen, hätte er dich benannt. Doch leider ließ er sich von einer nutzlosen Tradition leiten. Der Abt sollte ein Magier sein.“
„Nutzlose Tradition? Es hat noch nie einen Nichtmagier als Führer unseres Ordens gegeben, Gormen. Ich bin kein Magier, und deshalb fehlt mir die Eignung für dieses Amt!“
„Du weißt wie ich, Teuben: Die Zeit der Magier ist bald vorbei. Diese Fähigkeit ist selten geworden in unseren Tagen, und das ist vielleicht ganz gut so. Magier vereinen zuviel Macht in sich. Ein einziger wie Semanius kann zur Bedrohung für die ganze Welt werden. Irgendwann muss die Führung des Ordens in andere Hände übergehen. Angenommen, ich stürbe auf unserer Mission, wer sollte dann die Verantwortung übernehmen? Die einzige Person, die der Tradition entspräche, wäre Duna, aber die ist noch viel zu jung. Zwar beherrschen auch die Schwarzen Kämpfer Magie, aber auf eine andere Weise, und es ist nicht bloß eine unbegründete Tradition, sondern eine unumstößliche Regel unserer Ordensstatuten, dass ein Kämpfer den Schwarzen Orden nicht führen darf. Ich bin der festen Überzeugung: Du, Teuben, bist in jeder Hinsicht der am besten Geeignete von allen, unser nächster Abt zu sein. Ich bitte dich ja lediglich zu kandidieren. Nur, wenn unsere Schwestern und Brüder meine Auffassung teilen, werden sie dich auch wählen.“
Teuben gab nach: „Nun gut. Ich denke zwar immer noch, du wärest der bessere Abt, aber wenn du von der Kandidatur zurücktrittst, muss ein anderer die Verantwortung übernehmen. Ich werde mich der Wahl stellen.“
Gormen bedankte sich bei ihm. Dann blickte er in die Runde als Aufforderung an die anderen, ihre Bedenken zu äußern. Methor meldete sich als Nächster:
„Wenn alle Schwarzen Kämpfer mit Duna und Traigar nach Süden ziehen, bleibt das Kloster ungeschützt zurück. Das gefällt mir überhaupt nicht. Lass mich zu den Yauqui gehen und sie um Hilfe bitten, Gormen. Sie sind sehr wehrhaft und furchtlos. Ich könnte beruhigt aufbrechen, wenn ich drei Dutzend ihrer Reiter im Kloster wüsste.“
„Ein guter Vorschlag“, lobte Gormen. „Handele ganz nach deinem Ermessen.“
„Verzeiht, Gormen, auch ich habe noch eine Frage“, ergriff Cora das Wort.
Der große Mönch lächelte. „Die ich dir gerne beantworten will, Cora. Aber zunächst bitte ich euch Koridreaner, mich nicht so förmlich anzusprechen. Ihr gehört jetzt zum Orden. Wir alle hier haben unterschiedliche Aufgaben und Verantwortung. Und dennoch sind wir gleich. Selbst der Abt, ich spreche jetzt von Nunoc Baryth, wurde von jedem Pferdeknecht und jeder Dienstmagd mit dem vertraulichen Du angesprochen, denn wir alle sind Brüder und Schwestern. Bitte macht mir die Freude und betrachtet mich so, nicht als einen Führer, der ich ja noch nicht einmal bin.“
Cora errötete leicht. „Gut, Gormen. Was ich wissen will, hat nichts direkt mit unserem Plan zu tun, sondern mit dem, was Ihr … du gerade gesagt hast: Wir Koridreaner haben den Eid geschworen und gehören jetzt zum Orden. Aber du hast Traigar in den Rang eines Schwarzen Kämpfers erhoben. Muss er deshalb nicht tätowiert werden?“
Wieder lächelte Gormen:
„Das stimmt. Es gibt noch viel zu tun, bevor wir aufbrechen können: Die Totenfeier für Nunoc Baryth und Jela, die Wahl des Abts und natürlich die Weihe Traigars zum Schwarzen Kämpfer. Das alles hat seine Bedeutung und ist sehr wichtig, aber ich hätte es fast vergessen. Gut, dass du mich daran erinnerst. Natürlich soll dein junger Freund die Zeichen tragen. Morgen ist sein Weihetag.“
Als die anderen aufbrachen, um den Hang zum Kloster hinabzusteigen, blieb Traigar auf dem Findling sitzen. „Geht ihr schon“, verabschiedete er sie. „Ich möchte noch ein wenig hierbleiben.“ Keiner bot sich an, ihm Gesellschaft zu leisten, denn er wollte offensichtlich allein sein.
Die Sonne hatte sich zu einem orangeroten Oval verformt, breiter als hoch, und berührte den flirrenden Horizont. Keine Wolke stand am Himmel. Die Luft wirkte glasklar. Vor der leuchtenden Feuerscheibe sah er einen Schwarm Vögel auf ihrem Flug nach Süden vorbeiziehen, die ersten Wanderer, die vom Ende des Sommers kündeten. Wie eine rotglühende Metallkugel, die sich ihren Weg durch schmelzendes Eis bahnt, versank die Sonne in der lehmfarbenen Erde. Danach verfärbte sich der westliche Himmel purpurn, schließlich violett. Traigar warf einen Blick nach Osten. Die hohen, schneebedeckten Berge badeten noch in rotem Licht, doch der Himmel über ihnen zeigte sich schon in dunklem Grau wie mattes Eisen, und die ersten hellen Sterne funkelten am Firmament.
Die letzten drei Tage waren wie im Traum vergangen. Ein Traum, dessen Sinn zu entschlüsseln Traigar noch nicht die Zeit gefunden hatte. Sein Leben kam ihm auf den Kopf gestellt vor. Ausgesandt, um einen Feind der Menschheit zu vernichten, hatte er einen Unschuldigen getötet, kam fast in Flammen um, und nach einem Aufenthalt in der Unterwelt war seine Seele in die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Statt Traigar zu bestrafen, hatte ihn der Orden aufgenommen und zu einem der Seinen gemacht. Und nun schmiedete er Pläne gegen seinen früheren Herrn. Es schien zu viel, um es fassen zu können.
Traigar befand sich in einem seltsamen Gemütszustand. Kurz nach seinem Erwachen nach der Tat hatte er sich in Verzweiflung gesuhlt. Der Traum und die furchtbare Schuld hatten noch in seiner Seele nachgehallt wie der Donner eines abziehenden Gewitters. Doch jetzt fühlte er nichts mehr davon. Er bereute natürlich seine Tat, aber seine innere Beteiligung war schwach. Es kam ihm vor, als habe das Schicksal oder eine Gottheit seinen Weg vorgezeichnet. Wenn er sich zurückbesann, schien alles Geschehene unausweichlich. Niemals hatte er wirklich die Freiheit besessen zu entscheiden, was er tun wollte. Stets hatte man von ihm verlangt, seine Pflicht zu erfüllen. Und nun wieder. Er hatte – ohne ausreichende Zeit, darüber nachzudenken – einen Eid geschworen, der ihn abermals in die Pflicht nahm. Aber den anderen ging es kaum besser, auch sie wurden vom Malstrom des Schicksals mitgerissen. Zum Weg, der nun vor ihnen lag, gab es offenbar keine Alternative. Traigar wünschte sich, sein Vater wäre hier und er könnte mit ihm über alles sprechen.
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