1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 »Das war keine Vision«, fuhr Klara dazwischen, »das war ein harmloser Traum. Du darfst die Bedeutung deiner Träume nicht überbewerten, das habe ich dir schon oft gesagt. Es kommt mir immer mehr so vor, als wolltest du die Langeweile deines Leben damit kompensieren, dass du alles dramatisierst. Außerdem ist dies kein Grund für deine Abwesenheit im Laden.«
Dann erzählte Salvina von ihrer Jugenderinnerung und der Reaktion ihres Vaters wegen des alten Schlüssels.
»Mein Vater war ansonsten ein sehr ruhiger und geduldiger Mensch«, fuhr sie fort. »Sein Aufbrausen kann nur bedeuten, dass der Schlüssel von besonderer Bedeutung für ihn war. Und es kann auch kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet heute diese Erlebnisse und Erinnerungen habe. Ich wollte damit beginnen, den Lagerbestand meines Vaters zu erfassen.«
»Und deshalb vergräbst du dich in deinem Bett? – Komm, wir gehen jetzt nach unten und sperren deinen Laden wieder auf. Du kannst es dir nicht leisten, deine Kundschaft im Regen stehen zu lassen und dein Leben mit sinnlosen Grübeleien zu vergeuden, nur weil du von deinem toten Vater geträumt hast.«
»Ich kann mich jetzt nicht um den Laden kümmern.«
»Solange du dir diese Frage stellst, wirst du deine finanzielle Situation nicht verbessern. Du musst dich um das Geschäft kümmern, oder du arbeitest wieder in deinem alten Beruf. Hast du schon vergessen, wie oft du früher mit deinen Nerven am Ende warst? Im Vergleich dazu geht es dir heute gut.«
»Du verstehst mich nicht: Damals, als ich mit Iris im Lager war, waren sowohl die Standuhren als auch der Kleiderschrank frei zugänglich. Mein Vater hatte also erst später die Truhen und Stühle davor gestapelt. Außerdem steht der Schrank nicht an der Wand. Deshalb bin ich mir sicher, dass hinter dem Schrank noch etwas ist. Wie es aussieht, wollte mein Vater etwas vor mir verbergen.«
»Das ist über zehn Jahre her! Ich glaube nicht, dass sich dein Vater so wenig um die Dinge im Lager gekümmert hat, wie du. Es ist also normal, dass sich das Gesicht eines Lagers über die Jahre verändert. Manches wird verkauft, anderes kommt hinzu.«
»Das Lager hat sich auch verändert, aber nicht diese Ecke.«
»Du glaubst also, dein Vater hätte vor dir ein großes Geheimnis gehütet, und dieses ominöse Geheimnis lagert in deinem stickigen Keller hinter einem alten Kleiderschrank.«
»Ja, das glaube ich.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich denke auch, dass dein Vater Anrüchiges im Lager vor dir versteckt hat: Staubmäuse. Vielleicht auch Kellerasseln. Oder Silberfische.«
»Klara!«
»Nein Salvina, dafür habe ich kein Verständnis. Du verrennst dich in eine Wahnidee.«
Salvina stöhnte und sah ihre Freundin von unten herauf an. Sie war enttäuscht. Dann sagte sie: »Da ist noch etwas.«
»Was meinst du damit?«
»Heute sah ich eine ältere Frau vor meinem Küchenfenster, die mich einmal auf der Straße vor dem Laden angesprochen hatte, als ich noch ein Kind war.« Salvina stockte.
»Eine ältere Frau. Und weiter?«, drängte Klara.
»Na ja, wie soll ich sagen? – Damals hat sie mir von einem Mädchen erzählt, dem ich angeblich sehr ähnlich gesehen habe.« Wieder stockte Salvina.
Klara rückte noch näher an sie heran. Ungeduldig sagte sie: »Salvina! Was ist daran? Es gibt eine Menge Mädchen, denen du als Kind ähnlich gesehen hast.«
»Aber diese Frau hat mir nicht einfach nur von dem Mädchen erzählt. Sie behandelte mich, als wäre ich dieses Mädchen. Immer wieder strich sie mir über den Kopf und sagte: Meine kleine ... An den Namen kann ich mich leider nicht mehr erinnern.«
Klara studierte lange Salvinas Gesichtsausdruck, bevor sie sagte: »Ich sehe weder einen Zusammenhang mit dem Lager deines Vaters noch erkenne ich in der Geschichte mit der Frau etwas Besonderes. Du hast sie eben an dieses Mädchen erinnert. Na und?«
Zögernd sagte Salvina: »Es war ihre Enkeltochter.«
»Dann war es eben ihre Enkeltochter. Auch das hat nichts mit deinem Vater und dir zu tun.«
»Doch Klara, eben schon. Als mein Vater mitbekommen hatte, dass die Frau mit mir sprach, stürmte er sofort aus dem Laden und ging auf sie los. Dabei schrie er, sie solle mich in Ruhe lassen und nie wieder bei uns vorbeikommen. Ich habe meinen Vater niemals zuvor so aggressiv erlebt, wie in diesem Moment. Er war so wütend. Ich glaube, er wäre ihr am liebsten an die Gurgel gegangen. Und dann ...« Wieder stockte Salvina.
Klara nahm die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Keine der beiden sprach jetzt ein Wort. Salvina hatte die alte Standuhr ihres Vaters als Erinnerung an ihn nach seinem Tod im Wohnzimmer stehen lassen. Im gleichmäßigen Rhythmus erfüllte das Klackern des mechanischen Werks das kleine Wohnzimmer. Nach einer Weile stand Salvina auf und ging in die Küche. Als sie zurückkam, brachte sie zwei Gläser und eine Flasche Orangensaft mit und stellte alles auf den Tisch.
»Vielleicht wollte dein Vater nicht, dass dich fremde Menschen berühren«, begann Klara mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht war ihm die Frau auch nur unsympathisch.«
»Nein, das glaube ich nicht. Als mein Vater sie so angeschrien hatte, lächelte sie nur und sagte zu mir: Es sind deine Sachen . Dann griff sie in ihre Tasche, holte einen Schlüssel heraus und streckte ihn mir entgegen. Sofort riss ihn mein Vater ihr aus der Hand und schrie sie noch einmal an. Sie solle verschwinden, schrie er. Bevor sie ging, sagte sie noch: Vergessen Sie das ja nicht! Das sind ihre Sachen. Eines Tages müssen Sie ihr das alles geben! Mein Vater hat den Schlüssel gleich in seine Hosentasche gesteckt.«
»Na und?«
»Ich weiß nicht mehr, was mir mein Vater damals über diese Frau erzählte, und wie er seine Reaktion begründete. Er schaffte es jedenfalls, dass ich bis heute nicht mehr an sie gedacht habe. Auch als ich viele Jahre später mit Iris den Schlüssel in der Standuhr im Lager gefunden habe, erinnerte ich mich nicht mehr an diese Frau. Aber jetzt weiß ich, der Schlüssel aus der Standuhr, das war der Schlüssel, den sie mir geben wollte.«
»Salvina, ich bitte dich. Wie kannst du dir so sicher sein? Diese Schlüssel sehen doch alle gleich aus.«
»Es war derselbe Schlüssel, glaube mir. Das war so ein alter Schlüssel mit einem Ring als Griff und vorne einem Bart. Mein Vater hat mir damals den Schlüssel nicht mehr zurückgegeben. Und die Sachen, von der die Frau gesprochen hatte, habe ich nie gesehen. Er muss sie vor mir versteckt haben.«
»Wach auf aus deinen Phantasien, Salvina! Dein Vater war damals gereizt, weil er nicht wollte, dass du dich in seinem Lager aufhältst, das ist verständlich. Und heute hast du von ihm geträumt. Aber er hat nichts vor dir versteckt, nicht dein Vater.«
»Doch. Ich spüre es.«
Klara sagte nichts mehr. Sie zuckte nur kurz mit den Achseln, dann blickte sie zur klackernden Standuhr. Sie wollte es nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben, trotzdem wusste sie, dass sie sich auf Salvinas Gespür verlassen konnte. Schon oft hatte Salvina sie mit ihren Eingebungen und Vorahnungen überrascht.
Am Todestag ihres Vaters litt Salvina unter starken depressiven Stimmungen. Damals kannten sich Klara und Salvina noch nicht. Salvina wohnte zu der Zeit in der kleinen Dachgeschosswohnung über Klaras jetziger Wohnung. Als Salvina an diesem Morgen aufstand und zur Arbeit ging, wollte sie vorher unbedingt noch ihren Vater sehen. Gegen fünf Uhr blieb sie vor seiner Wohnungstür stehen, klingelte aber nicht. Sie wusste, dass er noch mindestens zwei Stunden schlafen würde. Aber sie wollte unbedingt seine Stimme hören, ihn umarmen, denn sie spürte, dass etwas nicht stimmte, anders war als sonst. Trotzdem weckte sie ihn nicht auf. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Ohne ihn noch einmal lebend zu sehen, wandte sie sich damals ab und verließ das Haus.
Читать дальше