»Ich habe es doch gesagt!«
Klara stellte sich hinter sie auf Zehenspitzen und lugte ebenfalls durch den Spalt. Auch sie erkannte nun, dass zwischen dem Kleiderschrank und der Mauer eine weitere Truhe stand.
Schließlich packten sie die dritte Uhr und schoben sie ruckweise zu den beiden anderen. Auch den Kleiderschrank rückten sie von der Stelle. Nun konnten sie die Truhe aus nächster Nähe betrachten. In diesem Moment atmete Klara erleichtert auf, Salvina jedoch bekam weiche Knie.
»Seltsam ist das ja schon«, sagte Klara. »Es sieht wirklich so aus, als hätte dein Vater die Truhe versteckt.«
»Klara, ich habe Angst, die Truhe zu öffnen. Vielleicht wäre es besser für mich, ich bewahre meinen Vater so im Gedächtnis, wie ich ihn gekannt habe. Stell dir vor, in dieser Truhe wären schreckliche Dinge versteckt, die ich ihm nie verzeihen könnte. Wie sollte ich damit umgehen? – Warum bin ich nur immer so neugierig? – Manchmal ist es vielleicht doch besser, wenn Geheimnisse geheim bleiben. Mein Vater wird schon seine Gründe gehabt haben.«
»Salvina, du bist verrückt. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich all das schwere Zeug hier mit dir von einem Ort zum anderen schleppe, damit wir am Ende die Truhe so stehen lassen, wie sie ist! Freu dich, wir sind am Ziel!«
Ohne Salvina weiter zu beachten, versuchte sie den flachen Deckel zu öffnen. Die Truhe war aus einfachen und unverzierten, jedoch massiven Brettern genagelt. Ursprünglich musste sie von schlichter Schönheit gewesen sein, doch über die vielen Jahre hinweg war das Fichtenholz dunkel und rau geworden. Klara rüttelte am Deckel, aber er ließ sich nicht öffnen. Dann sah sie an der Frontseite der Truhe ein im Holz versenktes Schloss.
»Wir brauchen den Schlüssel«, sagte Salvina eintönig.
»Du bist ein kluges Mädchen. Stell dir vor, das habe ich eben auch bemerkt.«
»Ich spreche nicht von irgendeinem Schlüssel. Ich meine den Schlüssel mit dem ringförmigen Griff. Den Schlüssel, den mir diese Frau vor zwanzig Jahren geben wollte, und den ich dann später mit Iris in einer der Uhren gefunden habe.«
»Vielleicht hast du ja recht«, erwiderte Klara. Dann ging sie zu den drei Standuhren und öffnete die Erste. Im Pendelkasten gab es nur wenige Möglichkeiten, einen Schlüssel zu verstecken. Da sie hier nichts fand, suchte sie die Uhr von oben bis unten nach weiteren Plätzen für ein geeignetes Versteck ab. Aber sie konnte ihn nicht finden. Auch in der zweiten Uhr fand sie ihn nicht. Und in der Dritten entdeckte sie statt des Schlüssels nur über die Jahre angesammelten Staub.
Mit gerunzelter Stirn stieß Klara einen tiefen Seufzer aus. Die beiden Frauen sahen einander entmutigt an, dann sagte Klara:
»Sei mir nicht böse, Salvina, aber ich gehe jetzt nach oben. Mein Mann wird sicherlich schon zu Hause sein und mich vermissen. Überlege dir, wo der Schlüssel sein könnte, und wenn du ihn nicht findest, dann öffnen wir die Truhe morgen mit Gewalt. Aber für heute habe ich genug.«
Als Salvina sich bei Klara für ihre Hilfe bedanken wollte, hatte diese das Lager schon verlassen. Klara lebt schnell , dachte Salvina. Sogar bei wichtigen und weitreichenden Entscheidungen verharrt sie nie in langen Überlegungen. Sie macht sich im Nachhinein auch keine Gedanken darüber, ob ihre Entscheidungen richtig oder falsch waren. Wer will das auch beurteilen können? Niemand weiß, wie sich sein Leben unter dem Einfluss einer anderen Entscheidung entwickelt hätte. Trotzdem zerbrach sich Salvina oft den Kopf darüber, ob ihre Entscheidungen die Richtigen waren.
Sie setzte sich auf die Truhe und dachte darüber nach, weshalb ihr Vater die Truhe vor ihr versteckt hatte, und das mit solch hohem Aufwand. Doch solange sie nicht wusste, was in der Truhe war, konnte sie sein Verhalten nicht verstehen. Auch, ob er richtig gehandelt hatte, könnte sie erst beurteilen, nachdem sie die Truhe öffnete. Am meisten bewegte sie aber die Frage, ob es von ihr richtig und ihrem Vater gegenüber korrekt wäre, die Truhe zu öffnen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken dabei um den Inhalt der Truhe. Dass in der Truhe etwas war, das er all die Jahre vor ihr geheim gehalten hatte, davon war sie inzwischen überzeugt.
Da ihre Neugier ihr niemals Ruhe gelassen hätte, beschloss sie, das Geheimnis ihres Vaters zu lüften. Aber wo konnte der Schlüssel sein? Vielleicht hatte ihr Vater den Schlüssel fortgeworfen, oder sie selbst hatte ihn in den vergangenen drei Jahren, die sie nun das Antiquitätengeschäft führte, weggeworfen, weil sie nicht wusste, zu welchem Schloss er gehörte. Sie hatte schon so vieles aus dem Nachlass ihres Vaters zum Müll gegeben.
Frustriert verließ sie das Lager und ging in ihre Wohnung.
In ihrer Küche war es noch hell. Es regnete nicht mehr, und die Sonne schenkte ihr durch die Lücken der Restwolken hindurch ihre letzten Strahlen. Salvina blieb nur so lange am Fenster, bis die Sonne hinter den Dächern der Häuser gegenüber verschwunden war. Danach machte sie sich eine große Schüssel Salat, trottete damit ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa.
Auf dem Bauch liegend richtete sie ihren Oberkörper auf und stützte sich dabei mit den Ellbogen ab. In dieser Haltung nahm sie ihren Salat zu sich. Dazu aß sie noch die schon angetrocknete Semmel vom Vortag, die sie zum Frühstück beim Bäcker um die Ecke geholt und dann doch nicht gegessen hatte.
Sie blieb zu Hause. Wie jeden Abend. Sie hatte keine Freunde außer Klara, und alleine ging sie nicht gerne weg. Nur ins Kino. Ein-, zweimal im Jahr. Nicht öfter. Im Kino wird man unterhalten, da kann man konsumieren, ohne selbst aktiv sein zu müssen. Und im Kino ist es dunkel, da starrt einen niemand an, da treffen einen keine fragenden Blicke, auch keine mitleidigen. Da klebt nicht sofort der Makel des Alleinseins auf dir.
Salvina schaltete den Fernseher ein. Ihr war nach Konsum, nicht nach Aktivität. Aber sie wusste nicht, was lief. Sie wusste nie, was lief, denn sie kaufte sich nie eine Programmzeitschrift.
Im Ersten sang ein blonder, sehr junger Mann von Liebe. Mit beiden Händen hielt er das Mikrofon fest umklammert und weinte fast vor Schmerz. Vor der Kulisse einer blühenden Almwiese, im Hintergrund das schneeweiße Matterhorn, sang er von der wichtigsten Frau in seinem Leben, im Leben eines jeden Mannes. Die Zuschauer im Saal weinten mit, sie bewunderten seine Walliser Tracht, sie bewunderten seine wehmütige Stimme, sie bewunderten sein ehrerbietiges Lied. Er sang von seiner Mutter.
Im Zweiten lief eine Serie. Es konnte nur eine Serie sein, das sah Salvina auf den ersten Blick. Sie hätte nicht erklären können, woran sie es sah, aber bereits nach den ersten Sekunden wusste sie, es war eine Serie mit monatlicher Ausstrahlung, je Sendung eine Stunde Spielzeit mit drei bis vier in sich abgeschlossenen Episoden aus dem Alltag einer Frau von nebenan.
In den Dritten kamen Dokumentationen, Berichte, Diskussionsrunden. Die Privaten zeigten Werbung, amerikanische Serien mit grundlos lachendem Publikum oder Quizsendungen. Salvina wechselte von einem Fernsehkanal zum nächsten. Als sie alle Programme kurz durchgesehen hatte, zappte sie wieder zurück. Auf einem der Privatsender kam jetzt statt der Werbung die Fortsetzung eines bereits begonnen Spielfilms. Salvina legte die Fernbedienung auf den Tisch, kaute weiter ihren Salat und schaute in die Glotze.
Aber sie konnte der Handlung des Films nicht folgen. Zum einen fehlte ihr der Anfang, zum andern musste sie immer wieder an die Truhe und ihren Vater denken. Außerdem gefiel ihr nicht, was sie da sah. Die Hauptrolle gehörte offenbar einem kleinen, Baseball spielenden Jungen. Wenn er mal nicht auf dem Platz war, um einen seiner obligaten Home-Runs zu laufen, saß er zu Hause auf dem Sofa und spielte gelangweilt mit seinem übergroßen Baseballhandschuh. Nun kamen seine streitenden Eltern zu ihm ins Wohnzimmer, er sah sie wegen ihres Streits vorwurfsvoll an und sprach ein paar höchst pädagogische Sätze zu ihnen. Die Eltern schämten sich ihrer mangelnden Vernunft und Disziplin, setzten sich zu ihm und waren wieder glücklich. Von nun an saßen sie zu dritt auf dem Sofa; Vater und Sohn neckten einander und taten so, als würden sie sich um den Baseballhandschuh streiten.
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