1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Den ganzen Tag über quälte sie die Sorge um ihren Vater. Später rief sie bei ihm an, im Geschäft, in der Wohnung. Sie konnte nicht wissen, dass ihr Vater bereits tot in seiner Wohnung lag. Da er nicht mehr ans Telefon ging, machte sie sich noch mehr Sorgen. Als sie später Klara davon erzählte, konnte sie nicht mehr sagen, wann ihre Sorge in eine depressive Stimmung überschlug. Aber sie konnte sich an den Nebel erinnern, der sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete und sie jeglicher Denk- und Entscheidungsfähigkeit beraubte. In diesem Zustand der geistigen Leere fuhr sie damals nach ihrer Arbeit nach Hause und fand ihren Vater. Weißt du Klara , sagte sie später, jedes Mal, wenn ein geliebter Mensch stirbt, raubt dir sein Tod ein Stück deines Lebens. Zurück bleibt ein mit Nebel gefüllter Raum. Diesen Nebel spürte ich schon, bevor ich es wissen konnte .
An diese Worte erinnerte sich Klara.
Ein andermal läutete Salvina gegen Mitternacht an ihrer Wohnungstür. Klara war schon im Bett und hatte fest geschlafen. Hektisch stammelte Salvina unverständliche Worte. Sie war völlig aufgelöst, so, als ginge es um Leben und Tod. Bitte Klara, du musst mir helfen . Das war der erste verständliche Satz, an den sich Klara erinnern konnte. Wobei helfen, und hat das nicht bis morgen Zeit? Sie kann nicht allein in den Laden gehen, um nachzusehen. Klara und ihr Mann müssten sie begleiten. Was sie nachsehen wolle? Im Laden sei jemand. Ob sie sich sicher sei? Ja, ganz sicher, sie spüre es. Ob sie es nur spüre, oder ob sie etwas gehört habe. Sie spüre es.
Klara wollte nicht die Heldin spielen, sie wollte auch nicht, dass ihr Mann für Salvina den Helden spielt, deshalb griff sie zum Telefon. Wenn du dir sicher bist, dann rufe ich jetzt die Polizei. In diesem Moment hatte Klara den Eindruck, Salvina erwache aus einem Traum. Sie wollte es nicht.
Klara sah die ganze Szene wieder deutlich vor sich. Sie sah ihren Mann schlaftrunken in der Schlafzimmertür stehen und nach Salvinas Problem fragen. Ja, so war es gewesen: Ihr Mann wurde um Mitternacht von Salvina wegen eines Traumes – oder was immer es war – aus dem Schlaf gerissen, trotzdem hatte er sofort Verständnis für sie und ihre Probleme. Er war es auch, der augenblicklich seinen Mantel anzog und ohne Licht zu machen lautlos die Treppe hinunterging. Klara folgte ihm. Salvina schlich zögerlich hinter ihnen her.
Vorsichtig versuchte ihr Mann, die hintere Ladentür vom Treppenhaus aus zu öffnen. Die Tür war verschlossen. Er beruhigte Salvina, sagte ihr, dass vom Innenhof aus niemand in den Laden gedrungen sein könne. Er bat sie um den Schlüssel. Dann schloss er wie ein Profi völlig geräuschlos die Tür auf. Vorsichtig betrat er den Laden, horchte und spähte. Im Laden war niemand. Sie machten kein Licht, ihre Augen hatten sich im finsteren Treppenhaus an die Dunkelheit gewöhnt. Der Verkaufsraum wurde von der Straßenlaterne etwas beleuchtet. Dieses fahle Licht reichte für alle drei aus, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war.
Damals hatte Klara schon im Voraus geahnt, dass niemand im Laden sein würde, und sie fühlte sich in ihrer nüchternen Lebenseinstellung bestätigt. Ihr Mann und Salvina hingegen waren beide erleichtert, keinen Einbrecher vorgefunden zu haben. Trotzdem verließen sie den Laden leise und umsichtig wieder durch den Hinterausgang.
Klaras Mann wollte gerade die Tür schließen, als er plötzlich innehielt. In Klaras Erinnerung spiegelte sich in Salvinas Gesicht Entsetzen, als auch sie selbst den Grund dafür wahrnahm, weshalb ihr Mann die Tür nicht schloss. Salvina und Klaras Mann hatten das metallene Geräusch schon Sekunden vor ihr gehört. Nun hörte auch sie, was die anderen bereits wussten. Das metallene Geräusch kam direkt von der Eingangstür. Es hörte sich so an, als machte sich jemand am Schloss zu schaffen.
Als Klaras Mann eine dunkle Gestalt den Laden betreten sah, schloss er leise die Tür. Sie ließen den Einbrecher gewähren und eilten so leise wie möglich nach oben. Als Salvina ihre Wohnung aufschließen wollte, warf Klara ein, dass der Einbrecher ihre Schritte in ihrer Wohnung hören könnte, da diese direkt über dem Laden lag. Deshalb riefen sie von Klaras Wohnung aus die Polizei und warteten am Fenster auf das Eintreffen des Streifenwagens. Wenige Minuten später wurde der Einbrecher gestellt.
Auch an diese Eingebung musste Klara denken. Deshalb widersprach sie Salvina nicht weiter. Trotzdem glaubte sie nicht, dass Salvinas Vater etwas vor ihr versteckt hatte. Sie wollte es nicht glauben. Als Salvina sie ansah, wiegte sie leicht den Kopf hin und her. Daraufhin sagte Salvina:
»Komm bitte mit mir ins Lager und hilf mir, die Ecke frei zu räumen. Ich habe keine Ruhe, solange ich nicht weiß, was hinter dem Kleiderschrank ist. Und alleine schaffe ich es nicht.«
Gemeinsam verließen sie Salvinas Wohnung. Klara folgte ihr durch das düstere Treppenhaus in den dunklen Kellergang, von dessen Wänden ihr Kühle und Feuchtigkeit entgegenstrahlten. Im Lager eilte Salvina sofort zu den beiden Truhen, die sie am Vormittag leer geräumt hatte, und blieb davor stehen.
»Die Truhen müssen weg«, ergriff Klara gleich das Wort, rieb sich die Hände und krempelte die Ärmel ihrer Jacke hoch. »Hinter der Tür ist noch Platz, da tragen wir sie hin.«
»So weit weg willst du die Truhen bringen? Das schaffen wir nie! Weißt du, wie schwer die sind?«
»Wir werden beide Truhen dort hinter der Tür verstauen, oder wir lassen es. Auf keinen Fall will ich später über sie stolpern. Und einen anderen Platz sehe ich nicht.«
»Komm mit«, sagte Salvina und zeigte Klara die beiden Stellen, die sie für die Truhen ausgesucht hatte.
»Du und dein Augenmaß«, erwiderte Klara kopfschüttelnd, als sie vor den Päckchen aus Zeitungspapier standen. »Der Platz reicht gerade mal für einen Klappstuhl, aber nicht für diese mächtigen Truhen. Wir tragen sie hinter die Tür, und damit basta. Die Päckchen kannst du später allein einräumen.«
Somit schleppten sie die Truhen quer durch das Lager. Klara immer voran. Danach eilte Klara als Erste zurück zu den Standuhren, kippte und drehte die vorderste Uhr, um sie stückchenweise von der Seitenwand des Kleiderschranks wegrücken zu können. Als Salvina endlich mit anpackte, versuchten sie gemeinsam, die Uhr hochzuheben und zu tragen, aber sie war zu schwer.
»Das schaffen wir nie!«, klagte Salvina.
»Jetzt hör bloß auf zu jammern, das hier war deine Idee«, maulte Klara und rückte die Uhr unbeirrt Zentimeter um Zentimeter aus der Ecke heraus in den Raum hinein.
Als sie die erste Uhr so weit fortgeschafft hatten, dass sie ihnen nicht mehr im Weg stand, hatten sie dadurch lediglich einen Teil der Seitenwand des Kleiderschranks freibekommen. So konnten sie noch immer nicht den Raum hinter dem Schrank einsehen.
»Interessant ist es schon«, begann Klara.
»Was meinst du?«
»Ja das«, antwortete sie und deutete auf die Seitenwand des Kleiderschranks. »Zwischen dem Schrank und der Mauer ist anscheinend wirklich noch genügend Platz für ein Versteck.«
Daraufhin kippten und drehten sie auch die zweite Standuhr. Wieder mussten sie ihre Finger zwischen die Seitenwände der Uhren quetschen, um sie kippen zu können. Da die Uhren so dicht aneinander standen, hätte Salvina es alleine nie geschafft. Sogar mit Klaras Hilfe stieß sie an die Grenzen ihrer Kraft, und sie brauchten lange, bis sie auch die zweite Uhr in ausreichendem Abstand verstaut hatten.
Zwischen dem Schrank und der dritten Standuhr war nun ein etwa handbreiter Spalt entstanden. Prüfend sah Salvina durch den Spalt hindurch, konnte jedoch noch nichts erkennen. Ohne auf Klara zu warten, griff sie in den Spalt und zog die dritte Standuhr etwas hervor. Klara kam ihr zu Hilfe und fasste an die andere Seite der Uhr, doch Salvina spähte gleich wieder durch den vergrößerten Spalt und rief augenblicklich:
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