»Weißt du, was ich bei Liebeskummer mache?«, fragte Iris am Nachmittag in Salvinas Zimmer. »Ich höre mir ganz laut Orgelmusik an. Die ist so schön schwermütig. Darauf kann ich wunderbar heulen. Mein Vater hat viele Aufnahmen von Orgelkonzerten. Die leihe ich mir dann heimlich aus. – Du hast keine Orgelmusik? Schade. Dein Vater auch nicht?«
»Mein Vater hört keine Klassik. Der ist doch den ganzen Tag nur mit seinen blöden Antiquitäten beschäftigt. Da lässt er sich vom Schlagerradio einlullen. Das passt zu ihm und dem alten Trödel.«
»Meine Mama sagt, dein Vater wäre früher anders gewesen, fröhlicher und netter.«
»Du meinst, als meine Mama noch gelebt hat. – Danke, Iris. Du bist wirklich eine gute Freundin. Glaubst du, es macht mir nichts aus, dass meine Mama tot ist?«
»Es tut mir leid, Salvina. Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst. Aber du kannst doch nichts dafür.«
»Wenn ich nicht wäre, dann würde meine Mama noch leben.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht wäre sie an einer Krankheit, etwa an Krebs gestorben.«
»Sie ist wegen mir gestorben. Nicht an Krebs und auch nicht an einer anderen Krankheit, sondern weil sie mich bekommen hat. Begreifst du das denn nicht?«
»Aber dich trifft keine Schuld.«
»Das weiß ich auch selbst. Aber es nützt mir nichts. Sie ist trotzdem nach meiner Geburt gestorben. Daran kann niemand mehr etwas ändern. Meine Mama ist gestorben, weil sie mir das Leben geschenkt hat.«
Iris hatte keine Geschwister. Sie liebte Salvina wie ihre eigene Schwester. Sie nahm Salvina in die Arme und drückte sie fest an sich. Sie wusste, dass sie ihr den Schmerz nicht nehmen konnte. Aber ihr beistehen, sie begleiten, ihr Wärme und Geborgenheit geben, das konnte sie. Das hatte sie Salvinas Vater voraus.
Arm in Arm weinten beide Mädchen, und keine wusste mehr, dass Salvina wegen Valerian weinte. Auch Valerian hatte es nie erfahren. Er hatte auch Salvinas Interesse an ihm nie bemerkt.
Plötzlich ließ Iris ihre beste Freundin los, horchte auf und fragte erstaunt: »Hörst du das?«
Salvina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erwiderte: »Was soll ich hören?«
»Die Musik.«
»Ich höre keine Musik. Ich höre nur die alte Uhr meines Vaters im Wohnzimmer.«
»Das ist Musik. Ich liebe die Stundenschläge von Standuhren. Die sind genauso schwermütig wie Orgelkonzerte. Darf ich die Uhr sehen und eine Stunde vorstellen?«
»Bist du verrückt? Mein Vater bringt mich um, wenn ich dich an seine Uhr lasse.«
»Und im Lager? Hat er da auch welche?«
»Ich glaube schon. – Nein Iris, das kann ich nicht machen.«
»Ach komm schon Salvina. Wenn er mehrere hat, dann gibt das ein tolles Konzert, das verspreche ich dir.«
Salvina schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann holte sie vom Schlüsselbrett den Ersatzschlüssel für das Lager, und gemeinsam schlichen sie durchs Treppenhaus in den Keller. Dort stemmten sie sich zu zweit gegen die dicke Eisentür. Nur allmählich gab diese nach und ließ sich öffnen. Hinter sich machte Salvina die Tür wieder zu, damit der tiefe, dumpfe Ton der Stundenschläge sich nicht über den Kellergang ins Treppenhaus ausbreiten konnte. Sie glaubte fest, dass ihr Vater sie und ihre Freundin beim Gang in den Keller nicht bemerkt hatte, und sie glaubte auch, dass er durch die geschlossenen Türen hindurch den Klang der Uhren nicht hören konnte. Trotzdem sah sie immer wieder ängstlich zur Tür.
All die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, hatte Salvina nicht mehr an diesen Tag gedacht. Doch jetzt – da sie auf ihrem Bett lag und versuchte, sich schöner Erlebnisse zu besinnen – konnte sie wieder jedes Detail dieses Tages vor sich sehen. Sie konnte sich dabei beobachten, wie sie in dem düsteren Licht gemeinsam mit Iris in die entlegenste Ecke zu den drei hohen Standuhren ging und eine nach der anderen in Gang setzte. Bei allen Uhren stellten sie die Zeiger auf eine Minute vor zwölf, zogen sie auf und warteten gespannt auf das Konzert gegen Liebeskummer. Zeitgleich gaben alle Uhren ihre Komposition zum Besten. Das Lager erschallte in einem ohrenbetäubenden Wunder aus tiefen, durchdringenden Klängen. Salvina hatte den Eindruck, als würde das ganze Inventar mitschwingen und selbst diese warmen Töne entstehen lassen. Auch ihr eigener Körper wurde erfüllt von der Musik und schwang in dem berauschenden Rhythmus des Klangzaubers mit, der sie gleichzeitig auf eine gewisse Art beruhigte. Sogar als der letzte Ton geschlagen wurde, schwang die Melodie eine Zeit lang noch weiter im Raum, wurde leiser und leiser, bis sie allmählich doch verstummte.
Salvina war so begeistert, dass sie die Uhren gleich nochmals stellen wollte, doch dann sah sie am Boden des Gehäuses einer der Standuhren einen Schlüssel liegen. Es war ein einfacher, dunkel angelaufener Schlüssel mit einem ringförmigen Griff. Sie bückte sich, nahm ihn und drehte ihn achselzuckend zwischen den Fingern. Dann öffnete sich die Tür, und ihr Vater stürmte herein.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er. »Der Lärm dröhnt durchs ganze Haus! Was machst du überhaupt hier unten! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du hier unten nichts verloren hast!«
Mit offenem Mund standen die beiden Mädchen wie angewurzelt und sahen Salvinas Vater mit großen Augen an. Er eilte zu ihnen und schloss von allen drei Standuhren die Glastüren. Dann bemerkte er, dass Salvina etwas in ihrer Hand hielt.
»Was hast du da?«, schrie er sie an. Als sie ihm den Schlüssel zeigte, schrie er noch lauter: »Verdammt noch mal! Fass diesen Schlüssel ja nicht mehr an! Geh sofort in dein Zimmer und lass dich hier nie mehr blicken!«
Er riss ihr den Schlüssel aus der Hand, und Salvina und Iris verschwanden geknickt in Salvinas Zimmer.
Anhaltende schrille Töne verdrängten die Stille im Raum, als hätte ein plötzlicher Stimmbruch die Stimmlage der Stundenschläge ins Unerträgliche erhöht. Salvina schreckte auf. Zuerst fand sie sich nicht zurecht, sie vermisste Iris und die langen, schwingenden Perpendikel der drei Standuhren. Nach dem ersten Schock sank sie zurück auf das weiche Bett und kam fast wieder zur Ruhe. Doch dann ließ ein weiteres schrilles Läuten sie noch einmal zusammenfahren. Plötzlich wusste sie wieder, wo sie war. Mit zittrigen Knien sprang sie aus dem Bett, hastete durch den Gang und öffnete die Wohnungstür. Klara stand draußen und hob gerade die Hand, um ein weiteres Mal den Klingelknopf zu drücken.
»Hallo Salvina, ich fand deinen Laden verschlossen, deshalb wollte ich nachsehen, ob du krank bist und etwas brauchst.«
»Danke, das ist lieb von dir, aber ich bin in Ordnung«, antwortete Salvina mit belegter Stimme und senkte den Blick zum Boden.
Eine abwartende Stille trat zwischen die beiden. Klara musterte sie. Schließlich fügte Salvina ihren Worten noch hinzu: »Doch, doch, es geht mir gut.«
»Hast du geschlafen?«, fragte Klara.
»Ich weiß es nicht. Zumindest habe ich von meiner Jugend geträumt. Ob ich dabei geschlafen habe, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall war ich weit weg.«
Klara packte Salvina am Arm und drückte sie zurück in die Wohnung. Sie schob sie durch den Gang und quer durch das Wohnzimmer auf das Sofa. Als beide saßen, sagte sie:
»So, ich bleibe hier, bis du mir erzählt hast, warum du am Montagnachmittag deinen Laden zusperrst und statt dich um deinen Lebensunterhalt zu kümmern, im Bett liegst.«
Salvina sah sie mit großen Augen an. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte sich in diesem Moment nicht aus Klaras Umklammerung befreien können. Klara war die Autorität in Person. Ihr strenger Blick, ihre aufrechte Sitzhaltung, und Salvina sank immer tiefer in das Sofa, wurde kleiner und kleiner, bis sie sich wie ein Kind fühlte, das vor der Mutter Rechenschaft ablegen musste. Also erzählte sie ihr von ihrer Vision, die sie am Morgen hatte. Und sie erzählte ihr von der Bitte ihres Vaters, sie solle etwas nicht tun.
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