Sie schaute den Blättern der Bäume und Büsche zu, wie sie sich unter dem Gewicht des Regens immer weiter krümmten, wie sich an den Blattspitzen Tropfen bildeten, wie diese Tropfen stetig wuchsen und die Blätter schließlich wieder nach oben wippten und ihre natürliche Form annahmen, sobald die Tropfen schwer genug waren, um sich von den Blattspitzen zu lösen. Sie schaute dem Regen zu, wie er sich allmählich um Zweige und Äste schmiegte und diese mit seinem zarten und feuchten, silbrig glänzenden Film umschloss. Sie schaute den Tropfen des Regens zu, wie sie auf die großen Steine am Rand des Weges aufschlugen, dabei platt gedrückt wurden und in viele feine Tröpfchen zerstäubten. Und sie schaute und hörte dem Regen zu, wie er in unzähligen, scheinbar ungeordneten Tropfen zu Boden fiel, und doch in seiner harmonischen Vielfalt – gleich einer Symphonie – ein musikalisch anmutendes Rauschen erklingen ließ.
Und sie beobachtete die Pfützen, wie die Regentropfen darin eindrangen, um gleich danach wieder emporzusteigen und schließlich doch darin verschwanden. Die von den Tropfen erzeugten Wellen, wie sie sich kreisförmig ausdehnten, sich mit anderen Wellen überlagerten und so ein regelmäßiges Muster auf den Oberflächen der Pfützen zeichneten. Und sie beobachtete die Pfützen dabei, wie sie größer und größer wurden. Und manchmal wünschte sie sich, das Wasser sollte so hoch steigen, dass alle Menschen schwimmen müssten. Dann, hoffte sie, würden sie die Welt mit anderen Augen betrachten und aus ihrem Trott aufwachen. Sie hoffte, die Angst, in den Fluten zu ertrinken, würde die Menschen einander wieder näher bringen, sie versöhnen, mit sich, ihren Mitmenschen, dem Leben, der Liebe.
Wenn wenigstens Leute in den Laden kämen. Sie müssten ja nicht unbedingt etwas kaufen, nur damit ich nicht die ganze Zeit allein bin , dachte sie. Von einer netten Unterhaltung traute sie sich erst gar nicht zu träumen. Um ihre aufkeimende Einsamkeit zu unterdrücken, gähnte sie. Aus Erfahrung wusste sie, dass bei Regen ihre wenige Kundschaft ausblieb und ihr somit ein trister Tag in ihren tristen Räumen mit ihren tristen Antiquitäten bevorstand.
Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht! An diese Worte musste sie denken, als sie anfing, sich am Hals zu kratzen. Nur selten kam es noch vor, dass sie die Kontrolle über sich verlor. Als Kind hatte sie sich oftmals blutig gekratzt. Dann achtete ihr Vater darauf, dass sie ihre Fingernägel täglich bis zum Ansatz zurückfeilte. Und er mahnte sie, auch wirklich die Feile und nur die Feile zu benutzen, damit ihre Nägel schön rund wurden und keine scharfen Kanten und Ecken entstanden. Ihre Wunden konnte er eindämmen, das Kratzen behielt Salvina bei. Erst als sie erwachsen wurde, hörte sie damit auf. Auch jetzt milderte sie ihr Kratzen in ein sanftes Streicheln mit den Fingerkuppen.
Was sollte sie nicht tun? Welche Botschaft steckte in ihrem Traum? Salvina glaubte an die Fähigkeit der Träume, Botschaften zu übermitteln. Sie glaubte daran, dass ihr Vater diese Bitte ausgesprochen hätte, wenn er noch gelebt hätte. Dann hätte sie ihn fragen können. Doch jetzt musste sie selbst herausfinden, was sie nicht tun sollte. Aber ihr fiel nichts ein. Nichts, das sie vorhatte, zu tun. Das Einzige, was sie sich schon vor Wochen vorgenommen hatte, war, das Lager im Keller durchzusehen. Sie wollte bis Jahresende den Bestand ihrer Waren erfassen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie seine Bücher weitergeführt, ohne sie zu überprüfen und ohne eine Inventur zu tätigen. Das Lager war für sie der Bereich, in dem sie ihren Vater noch am stärksten spüren konnte. Sie wollte ihm dieses Reich so lange wie möglich überlassen, um sein endgültiges und vollständiges Verschwinden hinauszuzögern.
Salvina schüttelte den Kopf. Der Gedanke war absurd. Es konnte keinen Grund geben, weshalb ihr Vater es nicht gewollt hätte, dass sie den Lagerbestand erfasste. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass ihr Vater Geheimnisse vor ihr gehabt haben könnte. Denn wer Geheimnisse hat, der ist zu schwach für die Wahrheit. Und wenn ihr Vater zu schwach für die Wahrheit war, dann hatte er sie belogen.
Aber auch das war absurd. Ihr Vater war ein ehrlicher Mann gewesen. Bieder und rechtschaffen. Ein Händler zwar, aber kein Halsabschneider. Und schon gar kein Betrüger. Niemals hätte er seine Tochter belogen. Darüber gab es für Salvina keinen Zweifel. Zumindest nicht bis jetzt.
Und wenn ihre Gedanken nicht absurd waren? Wenn die Bitte ihres Vaters im Traum wirklich bedeutete, dass sie den Lagerbestand nicht erfassen sollte? – Irgendwann musste sie es tun, und ihre Neugierde hatte sie jetzt geweckt. Sofort eilte sie zwischen ihren Waren hindurch zum Schreibtisch ihres Vaters, nahm den Schlüsselbund aus einer der vielen Schubladen und verließ den Laden über den Hinterausgang in Richtung Treppenhaus.
Stufe für Stufe tastete sie sich die enge Kellertreppe hinab und schob mit den Füßen den Putz beiseite, der von den Wänden in großen Platten abbröckelte. Jeden ihrer Schritte setzte sie sehr vorsichtig, denn die Stufen aus Beton waren abgegriffen und glatt und an vielen Stellen brüchig. Um nicht an die Kellerdecke zu stoßen, die vor allem im Treppenbereich sehr niedrig war, musste sie sich etwas bücken. In dem trüben Licht erkannte sie kaum die Spinnweben, die in dicken Knäueln schwarz und schwer von der Decke herabhingen. Immer wieder wich sie mit ihrem Kopf aus, damit sie ihr nicht ins Gesicht gerieten.
Am Ende der Treppe kam sie an kleinen Verschlägen vorbei, die mit erster bis dritter Stock nummeriert waren. Die kleinen metallenen Schilder mit den eingravierten Nummern hatte einst ihr Vater angebracht. Er brauchte auch im Keller seine Ordnung. Im ersten Verschlag standen in Regalen Konserven, Porzellangeschirr, Kartons und Kisten; auch leere Blumentöpfe waren zu sehen. Der Verschlag des zweiten Stocks war brechend voll mit Gerümpel. Hier schien alles wahllos hineingestellt worden zu sein, was nur selten oder nie mehr benötigt wurde. Typisch Klara , dachte Salvina. Auf dem Boden, gleich neben dem Gatter, stand ein blauer Werkzeugkoffer aus Metall. Der gehörte Klaras Mann. Den hatte er damals mitgebracht, als Salvina ihn um handwerkliche Unterstützung gebeten hatte. Sie hatte sich eine neue Mischbatterie für die Spüle der Küche im Laden gekauft und war dann schon am Ausbau der alten Batterie gescheitert. Aber das war nun auch schon über ein Jahr her. Der Verschlag für den dritten Stock war sauber und akkurat aufgeräumt. Der gehörte der älteren Dame im Dachgeschoss, von der Salvina nur den Namen und deren Bankverbindung kannte.
Gegenüber den Verschlägen befand sich in der gemauerten Wand eine geschlossene Tür aus massivem Eisen. Salvina blieb davor stehen, nahm den längsten Schlüssel vom Bund und sperrte sie auf. Dann stemmte sie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht dagegen. Nur langsam konnte sie die Tür öffnen.
Kühle, etwas muffige Luft schwappte ihr entgegen. Sie schaltete das Licht an. Die verstaubte Kellerleuchte in der Mitte der Decke spendete aber nur ein diffuses Licht. Um den Lagerraum auszuleuchten, reichte ihr Licht nicht aus. Der Raum war so groß wie eine Zweizimmerwohnung und angefüllt mit Mobiliar und Einrichtungsgegenständen. Salvina bückte sich, nahm den Stecker eines Verlängerungskabels, das neben der Tür lag, und steckte ihn in die Steckdose unterhalb des Lichtschalters. Daraufhin erstrahlten einige Stehlampen in hellem Licht.
Unsicher schaute Salvina sich um. Dann schritt sie das Lager ab. Sie zwängte sich durch die engen Wege zwischen dem Mobiliar. Bei den meisten Stücken hatte sie den Eindruck, sie von früher zu kennen. In den drei Jahren hatte sie wenig aus dem Lager verkauft, und auch ihr Vater hatte nur selten Stücke aus dem Lager über den Lastenaufzug im Innenhof zur Rückseite des Ladens gebracht. Der Lastenaufzug bot die einzige Möglichkeit, größere Möbel vom Lager in den Laden zu bekommen. Auch ihrem Vater war dieser Weg ohne Hilfe zu beschwerlich gewesen.
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