In der am weitesten von der Tür entfernten Ecke blieb Salvina vor einer Reihe Holzstühle stehen, die auf zwei Truhen gestapelt waren. Sie nahm einen der Stühle herunter, setzte sich auf das Lederpolster und betrachtete argwöhnisch das Arrangement, das drei Standuhren und einen Kleiderschrank verdeckte. Zwischen den Stuhlbeinen hindurch schaute sie auf die fast bis an die Decke reichenden Standuhren, die wie eine Mauer an der Seite des Kleiderschranks dicht aneinander standen. Dabei fiel ihr auf, dass zwischen der Rückseite des Kleiderschranks und der Wand noch Platz sein musste. Zuerst dachte sie sich nichts dabei, doch plötzlich sprang sie auf, hob alle Stühle von den Truhen und verteilte sie im Lager. Danach versuchte sie, die Truhe vor den Uhren wegzuschieben.
Aber die war zu schwer. Salvina öffnete den Deckel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Truhe war voll mit unterschiedlich großen Päckchen aus Zeitungspapier. Sie nahm eines dieser Päckchen heraus und entfaltete die vielen einzelnen Blätter. Naserümpfend betrachtete sie den bunt verzierten Porzellanteller, der zum Vorschein kam, und dachte augenblicklich an eine Kaffeerunde alter Damen in einem Wiener Kaffeehaus. Auf der Unterseite fand sie ein Zeichen, das zwei gebogenen Schwertern glich, die sich kreuzten. Sie kannte das Zeichen nicht. Achtlos wickelte sie den Teller aus Meißner Porzellan wieder ein und legte ihn zurück in die Truhe.
Auch in der zweiten Truhe lagen Päckchen aus Zeitungspapier. Diese waren größer und noch schwerer. Die meisten glichen in ihrer Form Vasen oder Figuren. Salvina kratzte sich kurz an der Stirn, dann schritt sie erneut das Lager ab. Sie suchte nach einem freien Platz für die beiden Truhen.
Schon bald hatte sie zwei freie Flächen entdeckt, die ihr groß genug erschienen. Päckchen für Päckchen trug sie dorthin und verstreute sie rund um die Flächen, auf denen sie die Truhen abstellen wollte. Nachdem sie die Truhen leer geräumt hatte, glaubte sie, mehrere Kilometer gelaufen zu sein, so schwer waren ihre Beine. Dennoch zog sie mit hochrotem Kopf ruckartig die leeren Truhen zur Seite, nur so weit, dass sie an den Kleiderschrank und an die Standuhren herankam.
Der Kleiderschrank war leer, aber zwischen der Wand und den Uhren eingeklemmt, sodass sie ihn nicht greifen konnte. Und die Standuhren waren für sie allein zu schwer. Sie hatte keine Kraft mehr. Eine Weile stand sie noch unschlüssig und schaute sich um, ob irgendetwas herumlag, das sie als Hebel hätte benutzen können. Dann beschloss sie, am späten Nachmittag Klara – ihre Mieterin aus dem zweiten Stock – um Hilfe zu bitten.
Es war schon Mittag geworden, als sie durch den Hintereingang wieder den Laden betrat. Etwas schien ihr verändert. Sie spürte eine Spannung, die sie zuvor nicht empfunden hatte. Dies beunruhigte sie. Obwohl sie wusste, dass es nicht sein konnte, glaubte sie, die Anwesenheit eines Menschen zu spüren. Hätte in ihrer Abwesenheit ein Kunde den Laden betreten, so wäre im Lager eine laute Klingel ertönt; es konnte also niemand hier sein. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet. Vorsichtig und leise setzte sie ihre Schritte und ging in die Mitte des Verkaufsraumes. Dort drehte sie sich einmal um sich selbst. Aufmerksam blickte sie in jeden Winkel, auf jeden Gegenstand. Sie achtete auf das leiseste Geräusch, auf ungewohnte Gerüche. Aber außer der Spannung nahm sie nichts Fremdes wahr. Alles war wie immer. Alles stand an seinem Platz und wartete darauf, endlich das dunkle Loch verlassen zu dürfen. Auch Salvina stand wieder an ihrem Platz und wartete.
Ihr wurde kalt. Zuerst spürte sie die Kälte an den Füßen. Ihre Fußsohlen fühlten sich an, als würde sie an einem nebligen Novembertag barfuß über glitschige Flusskiesel wandern. Die Kälte der Kiesel stieg langsam über ihre Beine in den Unterleib. Bald hatte sie ihren ganzen Körper ergriffen. Salvinas Haut zog sich zusammen und stellte ihr die feinsten Härchen auf. Schließlich ging sie zurück. Jeden Schritt setzte sie behutsam auf das Parkett und mied die knarrenden Stellen. Sie ging vorbei am Schreibtisch ihres Vaters. Dort spähte sie in die kleine Küche. Als sie sich absolut sicher war, dass sich dort niemand versteckt hielt, eilte sie zum Küchenschrank und holte das längste Messer aus der obersten Schublade. Sie wusste, dass sie niemals zustechen könnte. Sie wusste, dass der Anblick des Messers die Aggression eines Angreifers verstärken würde. Dennoch stand sie am Herd, das Messer fest im Griff und sah zur Tür.
Salvina wartete und horchte, doch nichts geschah. Erinnerungen wurden in ihr wach. Erinnerungen an einen Vorfall, an den sie jetzt nicht denken wollte, denn er machte ihr nur noch mehr Angst. Aber die Bilder stiegen unweigerlich wieder in ihr hoch. Sie durchlebte diese endlos langen Minuten jener Nacht, in der sie Klara und deren Mann aus dem Schlaf gerissen hatte. Das Frösteln, als sie zu dritt am offenen Küchenfenster in Klaras Wohnung standen und auf das Eintreffen der Polizei warteten. Nein, so etwas passiert nur einmal, es musste sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass bei ihr nichts zu holen war. Salvina verdrängte die Bilder, verdrängte die Erinnerung. Sie begann zu pfeifen. Wie ein Kind, das sich in der Dunkelheit fürchtet, verscheuchte sie die Stille und mit ihr die Einsamkeit, um die Angst nicht mehr zu spüren.
Aber die Angst und die Einsamkeit blieben. Salvinas Gedanken kreisten um die letzten Tage. Sie hoffte, sich an etwas erinnern zu können, das sie ablenkte. Doch sie fand weiter nichts als pure Ereignislosigkeit und Ödnis. Noch vor wenigen Jahren hatte sie sich danach gesehnt, endlich wieder einen eigenen Gedanken fassen zu können. Sie hatte sich danach gesehnt, wieder am Fenster zu stehen und nichts tun zu müssen. Nur den Regen beobachten, schauen, wie seine schweren Tropfen auf dem Asphalt zerplatzen.
Als ihr Vater noch gelebt hatte und den Antiquitätenladen führte, ließ ihr der Alltag in der Klinik keine Zeit zum Nachdenken; er ließ ihr keine Zeit, der Welt bei ihrem Treiben zuzuschauen, sie mit ihren Augen zu sehen. Nun hatte sie diese Zeit wieder im Überfluss, wie früher, als sie noch ein Kind war. Aber sie hatte sich in den Jahren, in denen sie als Krankenschwester gearbeitet hatte, verändert. Sie hatte verlernt, die Welt mit kindlichen Augen zu sehen, und sie hatte verlernt, die Einsamkeit zu ertragen. Sie ist erwachsen geworden und hatte doch nie so werden wollen, wie die meisten Erwachsenen auf sie wirkten, die ihr während ihrer Kindheit begegnet waren.
Salvina legte das Messer zurück in die Schublade und trat ans Fenster. Durch das feine Netz der vergilbten Gardine schaute sie auf die Fahrbahn der Straße, obgleich ihr Blick in die Ferne gerichtet war, so, als könnte sie durch den Asphalt hindurchblicken und sehen, was sich jenseits des Straßenbelags im Innern der Erde verbarg. Für sie selbst war es, als öffnete sich ein Schleier, wenn sie durch die Dinge hindurchsah. Ein Schleier, der ihr im Alltagsleben den Blick in ihr Inneres versperrte. So blickte sie scheinbar durch die Straße, doch in Wirklichkeit schaute sie dabei tief in sich selbst hinein.
Dort sah sie den Trauerzug, den Paule angedeutet hatte, und sie selbst führte ihn an. Sie versuchte, die Gefolgschaft zu sehen, aber ihr fehlte der Mut, sich umzudrehen. Sie hatte Angst davor, das bestätigt zu sehen, was sie zu wissen glaubte. Mit gesenktem Haupt schritt sie als Erste hinter dem schlichten Sarg und wusste, dass die Gefolgschaft aus unendlich vielen kleinen und großen, kindlichen und erwachsenen Salvinas bestand. Und sie wusste, dass sie sich selbst zu Grabe trug. Unentwegt, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Mit jedem Augenblick, der verrann, trug sie ein Stück ihrer selbst zu Grabe. Mit jedem Augenblick, den sie nicht für sich nutzte, verschwendete sie ein wertvolles Stück ihres Lebens.
Sie wusste nicht weiter. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Bevor sie einen Schritt setzte, wollte sie immer wissen, was sie nach diesem Schritt erwartete. Deshalb hätte sie gerne einen Plan für ihr Leben gehabt, einen Plan, an dessen Anfang sie schon erkennen konnte, was am Ende herauskommen würde. Alle Lebewesen folgen dem Plan der Natur. Sie folgen dem Plan des Wechsels zwischen den Jahreszeiten, zwischen Tag und Nacht, zwischen tätig sein und ruhen, zwischen Nahrung aufnehmen und fasten. Sie folgen den in ihm enthaltenen Vorgaben, den Regeln, den Hilfestellungen, und wissen dabei wahrscheinlich nicht, dass ihr Handeln einem Plan folgt. Nur der Mensch weiß von diesem Plan und verwirft ihn, um nicht weiter von den Vorgaben der Natur abhängig zu sein. Der Mensch möchte frei und unabhängig sein, möchte selbst entscheiden, selbst gestalten. Auch Salvina hätte gern selbst gestaltet, aber sie konnte es nicht. Sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, wusste nicht, was sie machen, was sie tun musste, um mit ihrem Alltag, ihrem Leben zufrieden zu sein. Sie wusste nicht, wie sie glücklich werden könnte.
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