Salvina schaltete den Fernseher aus und beendete ihren Tag früher als gewohnt.
Im Bad prüfte sie die wenigen feinen Unreinheiten ihrer Haut im Gesicht, die sie nur sehen konnte, wenn sie ganz nah an den hell beleuchteten Spiegel herantrat. Sie zupfte und drückte ein bisschen, bis sich die Haut rötete. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Augen. An den Unterlidern bildeten sich die ersten kleinen Fältchen. Auf ihre glatte und reine Haut war sie immer sehr stolz gewesen.
Salvina glättete ihre Unterlider zuerst mit den Daumen, dann begann sie, Grimassen zu schneiden. Sie formte dabei ihren Mund zu einem O und zog gleichzeitig ihr Gesicht in die Länge. Anschließend machte sie einen breiten Mund. Diese Übung fördert die Durchblutung der Gesichtshaut und macht sie gleichzeitig geschmeidig, hatte sie einmal gelesen. Anschließend streifte sie ihren Hals mit den Händen glatt.
Dann zog sie sich aus. Sie drehte sich vorm Spiegel, legte die Hände unter die Brüste und hob sie etwas an. Um den Rest ihres Körpers besser sehen zu können, stieg sie auf den Deckel des Toilettensitzes hinter ihr. Nun strich sie sich mit den flachen Händen über die Schultern. Von dort aus glitten ihre Hände seitlich entlang ihrer Brüste, über die Taille, dann über ihre weiblichen Hüften bis hinab zu den Oberschenkeln, so, als wollte sie ein eng sitzendes Etuikleid glatt streifen. Abschätzig musterte sie sich vorm Spiegel, drehte sich nach links, dann nach rechts, und je länger sie sich im Spiegel betrachtete, desto unzufriedener wurde sie. Sie dachte an die vielen superschlanken Frauen, deren scheinbar perfekte Körper ihr von den Medien vorgeführt wurden. Bislang war sie stolz auf ihre schlanke Figur gewesen, doch genügte es, schlank zu sein? Perfekt wollte sie ihren Körper wissen, so perfekt, wie sie die Körper der Frauen glaubte, die sie noch nie in natura gesehen hatte.
Von ihren leichten Wölbungen entmutigt, stellte sie sich unter die Dusche. Nach ihrer Abendtoilette ging sie zu Bett.
Aber schlafen konnte sie nicht. Sie war noch nicht müde. Und sobald sie sich hinlegte und die Augen schloss, begannen ihre Gedanken zu kreisen. Sie wusste, Klara würde unter keinen Umständen mehr darauf verzichten, die Truhe zu öffnen. Notfalls würde sie die Truhe mit der Axt oder mit einem Hammer zertrümmern oder sie zersägen. Um dies zu verhindern, musste Salvina am nächsten Tag den Schlüssel finden.
Sie wälzte sich Stunde um Stunde im Bett, schaltete das Licht an, ging ins Bad, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, ging in die Küche, um ein Glas kalte Milch zu trinken. Es half alles nichts. Solange sie darüber grübelte, wo der Schlüssel sein könnte, konnte sie nicht schlafen. Erst sehr spät vergaß sie für einen längeren Moment den Schlüssel und schlief ein.
Der ursprünglich weiße Lack der Bretter von der Tür zum Keller war matt und übersät mit dunklen Schlieren. Die Türklinke – nur eine einfache, glatte Eisenstange, die beim Hinunterdrücken einen starren Riegel hochhob – fühlte sich kalt an. Das wuchtige Kastenschloss war auf die Bretter der Tür aufgeschraubt. Der Schlüssel dazu bestand aus einem bleistiftdicken Rohr mit einem breiten Bart und am anderen Ende einem ovalen Ring, der so groß war, dass Salvina Zeige- und Mittelfinger hindurchstecken konnte. Sie öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Im ersten Moment schreckte sie zurück, denn das Licht flackerte. Aber sie musste in den Keller gehen, sie suchte etwas. Kurz überlegte sie, was sie suchte, sie hatte es vergessen. Nein, sie durfte nicht umkehren, jetzt nicht mehr. Sie musste weitergehen, dann würde es ihr schon wieder einfallen.
Vorsichtig ging sie die bekannten Stufen der Kellertreppe hinab. Am Ende der Treppe folgte sie dem kurzen Gang, vorbei an den Abteilen ihrer Mieter. Vor der Tür zum Lager ihres Geschäfts schaute sie sich noch einmal um. Sie war allein. Dann schloss sie die Tür auf, stemmte sich mit dem Gewicht ihres gesamten Körpers dagegen und trat ein. Auch hier flackerte das Licht. Wieder schreckte sie zurück, wieder befahl sie sich, weiterzugehen.
Hier ist jemand , dachte sie plötzlich. Ein Anflug von Panik breitete sich in ihr aus und wühlte sie auf. Doch für einen kurzen Moment beruhigte sie sich wieder. Es konnte niemand hier sein, denn nur sie allein hatte einen Schlüssel für das Lager. Dann hallte ein lauter, dumpfer Knall durch den Raum und ließ sie hochfahren. Sofort schaute sie um sich. Erleichtert stellte sie fest, es war nur die Tür, die hinter ihr ins Schloss gefallen war. Salvina vermied jetzt jede Bewegung, und so fühlte sie die beruhigende Wirkung der Stille, die sich mit dem Abklingen des Knalls nach und nach im Raum ausbreitete. Schon bald hörte sie nur noch das sanfte Rauschen ihres eigenen Atems.
In langsamen Schritten begann sie, das Lager zu durchqueren. Behutsam setzte sie ihre Schritte, sie wollte lautlos das andere Ende erreichen. Schon aus der Ferne sah sie die Truhe in der Ecke stehen, befreit von den Uhren und von dem alten Kleiderschrank. Alles war, wie sie und Klara es zurückgelassen hatten. Nur das Licht flackerte so stark, dass Salvina zeitweise stehen bleiben musste, um nicht in diesem Wechsel aus hell und dunkel gegen die Antiquitäten zu stoßen. Als sie die Truhe erreicht hatte, versuchte sie, den Deckel zu öffnen.
»Ich brauche den Schlüssel«, sagte sie laut vor sich hin und rüttelte am Deckel.
Dann rückte sie die Truhe etwas nach vorne und tastete deren Wände ab. Anschließend suchte sie mit ihrem Blick das Lager ab und senkte resigniert die Augen. Sie würde Wochen brauchen, wenn sie an allen möglichen Stellen nach dem Schlüssel suchen wollte. Wenigstens bei den Standuhren schaute sie noch einmal nach. Aber den Schlüssel mit dem ringförmigen Griff konnte sie nicht finden.
Sie setzte sich auf die Truhe und dachte darüber nach, wo sie den Schlüssel an ihres Vaters Stelle aufbewahrt hätte. Sie hätte ihn versteckt. An einem Ort, den niemand außer ihr kannte oder an dem sie sicher sein konnte, dass niemand außer ihr dort etwas suchte. Wieder erinnerte sie sich des Augenblicks, als ihr Vater ihr den Schlüssel aus der Hand gerissen hatte, nachdem sie mit Iris den Stundenschlägen der Uhren gelauscht hatte. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er sie anschrie, mit einer schnellen Bewegung den Schlüssel ergriff und sofort in seine Hosentasche steckte. Von da an hatte sie den Schlüssel nicht mehr gesehen.
In dem flackernden Licht hatte sie den Eindruck, der Boden unter ihren Füßen würde sich bewegen. Sie schaute genauer hin und weitete ihre Augen. Dabei glitt ihr Blick über ihre Hose und sie bemerkte, dass es nicht ihre Hose war, die sie trug. Sofort sprang sie von der Truhe und betrachtete die Hose von oben bis unten. Es war die Hose ihres Vaters. Nur ihr Vater hatte diese altmodischen Hosen getragen, er war in der Zeit von Salvinas Geburt stehen geblieben. Sofort griff sie in beide Taschen. Zuerst glaubte sie die Taschen leer, doch die Taschen waren tief, viel tiefer, als Salvinas Hände lang waren. Sie führte ihre Hände noch weiter hinein, spürte mit den Fingerspitzen schon ihre Oberschenkel, als sie an ihrem rechten Mittelfinger eine metallene Kälte empfand. Sie griff nach diesem Metall und nahm es heraus. Es war der Schlüssel. Hastig steckte sie ihn in das Schloss und drehte ihn um. Dann hörte sie das Schloss aufschnappen.
Zuerst fasste sie ungeduldig den Deckel und hob ihn etwas an. Als sie merkte, dass sie ihn öffnen konnte, hielt sie inne. Dann spürte sie plötzlich eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken ließ sie den Deckel wieder fallen und drehte sich um. Ihr Vater stand hinter ihr und sah sie flehend an. Er sagte:
»Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«
Noch im Aufwachen spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.
Später stand sie wie jeden Morgen mit weißen Socken in weißen Sandalen am offenen Fenster ihrer Küche. Sie beugte sich vor, stützte sich dabei auf ihre Ellbogen und sah an der Außenmauer des Hauses hinab auf das triste Grau des Straßenbelags. Dabei sah sie auf die Uhr und wusste, in genau fünf Minuten würde sie Paule die Tür öffnen. Diese exakte Uhrzeit hatte sich in den vergangenen zwei Jahren in Salvinas Tagesablauf fest eingespielt.
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