„Den du leider fallen gelassen hast.“, erinnerte sie ihn.
„Das war bitter, stimmt.“, sagte Falk betrübt.
„Aber dafür hab ich dich netterweise dann noch nach Hause begleitet .Und sogar das Taxi bezahlt.“
„Doch nur, damit du endlich den Brief öffnen konntest!“
Caro ließ das unkommentiert, und ihrer beider Blicke wanderten zum Schreibtisch. Falk massierte sich den Schädel und gähnte ausgiebig. Caro sagte:
„Wie wärs, wenn ich uns einen Kaffee aufsetzte? Und dann sehen wir uns den Brief noch mal in Ruhe an. Und den Grundriss.“
Falk schaute sie trübe an.
„Grundriss?“
Caro seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg nach unten. Sie würde ihm wohl noch etwas Zeit geben müssen, vollständig aufzuwachen.
Die Kaffeemaschine war schon fertig durchgelaufen, als Falk endlich die Treppe herunter rumpelte und im Bad verschwand. Caro hatte die Dachterrasse entdeckt, daraufhin die Küche durchforstet und Geschirr und Besteck, sowie Milch, Brot, Butter, Marmelade und ein großes Einmachglas mit undefinierbarem Inhalt nach draußen gebracht, und einen wackeligen Campingtisch gedeckt.
Sie genoss die frische Morgenluft. Ein Apfelbaum, der auf dem Nachbargrunstück wuchs, streckte seine Äste über die Brüstung der Terrasse. Über den Dächern der umliegenden Häuser war in einiger Entfernung ein bewaldeter Berghang erkennbar, der sich bis zum Horizont hinzog. Blinzelnd gegen das Sonnenlicht sah Caro an der steilen Kante des Hangs die Silhouette eines einzelnen runden Turms, mit einem flachen, zur Mitte hin spitz zulaufenden Kegeldach.
„Ach, du hast die eingeweckten Pflaumen von meinem Papa gefunden. Sind noch frisch, aus DDR-Zeiten.“
Falk hatte sich zu ihr gesellt, die dampfende Kaffeekanne in der Hand, mit tropfnassen Haaren und fahler Gesichtsfarbe. Caro betrachtete zweifelnd den Inhalt des Einmachglases. Falk hatte sich auf eine der Bierbänke, die neben dem Campingtisch standen, fallen gelassen. Er schenkte ihr Kaffee ein.
„Setz dich doch auch.“, sagte er liebenswürdig. „Und gönn dir nen Kaffee. Du siehst aus, als könntest du eh noch nichts essen.“
„Danke, du genauso.“, antwortete Caro, doch sie ließ sich ihm gegenüber nieder und trank einen Schluck des heißen Getränks. Herrlich stark.
„Dafür, dass du doch eigentlich keinen Alkohol trinkst, hast du gestern aber ganz schön zugelangt.“, stichelte Falk.
„Ich weiß jedenfalls wieder, warum ich normalerweise keinen trinke.“
Um das Thema zu wechseln, deutete sie auf den Turm im Wald und fragte:
„Da oben, unterhalb des Fuchsturms steht Maries Haus, oder?“
Falk nickte, und stand, offenbar ihre Gedanken erratend, seufzend auf.
„Und ich hole jetzt wohl mal Maries Brief.“
Während er weg war, starrte Caro gedankenverloren hinauf zum Fuchsturm. War das wirklich erst eine Woche her, dass sie Falk kennen gelernt hatte?
Seit sie hier in Jena ihr Studium angefangen hatte, hatte sie ein Seminar nach dem nächsten absolviert und sich nur gelegentlich, mehr beiläufig, gefragt, wo sie mit ihrem Leben eigentlich hinwollte. Ihr Vater überwies ihr monatlich die Miete und ein kleines Taschengeld, ab und zu jobbte sie in den Semesterferien, und ansonsten brauchte sie nicht viel.
Erst als sich diese Sache beim Radio ergeben hatte, war etwas Unruhe in ihren Alltag gekommen. Das Ganze war eigentlich auch eher zufällig passiert, bei einer Party in der Wohnung eines entfernten Bekannten von Melanie. Caro hatte, mit einem Plastikbecher zimmerwarmen Weißweins in der Hand, im Flur herumgestanden und sich angesichts angesäuselter Erstsemester-Studenten reichlich unwohl gefühlt.
Nach einer halben Stunde hatte sie den Heimweg angetreten, war vor der Haustür aber mit einem gewissen Kai ins Gespräch gekommen, der Mitte Vierzig und somit kein Erstsemestler war, und sich genau wie sie gerade von der Party abgesetzt hatte. Er hatte er ihr von seiner Arbeit beim Offenen Kanal Jena erzählt und ihr einige Tage später die Studioräume gezeigt. Daraus hatte sich ihre mittlerweile regelmäßige Sendung „Wie es euch gefällt“ entwickelt, in der sie einmal im Monat zu eine bestimmten Thema recherchierte, Interviews führte und dazwischen Musik einspielte. Es machte ihr mehr Spaß, als sie ursprünglich erwartet hatte. Gleich ihre erste Sendung über das Tierheim in Jena hatte ihr viel Lob von den Kollegen beim Offenen Kanal eingebracht. Es war sogar vorgeschlagen worden, das Material einzureichen beim diesjährigen Bürger-Medienpreis.
Caro seufzte tief und trank ihren Kaffee mit einem Zug aus. Falk trat durch die Terrassentür zu ihr heraus, die Papiere aus dem Briefumschlag in der einen, und ein kleines Radio in der anderen Hand. Während er im Rauschen der Frequenzen einen Sender suchte, sagte er:
„Diesen Trick mit der Kerze und dem Wasser, den hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
„Ja, und das beste ist, mit dem Wasser hab ich dich heute Morgen endlich wach gekriegt.“, grinste Caro.
Sie hatte Falk am gestrigen Abend, nachdem sie erst aus der Rose geflogen waren, dann eine Weile bei dem Dönerstand auf die anderen gewartet und schließlich festgestellt hatten, dass die wohl noch weiter feiern wollten, wieder einmal damit genervt, das sie doch endlich diesen Brief von Marie an Mark lesen müssten. Falk hatte wie immer abgelehnt, doch dann hatte sie sich an diesen einfachen Trick erinnert: wenn man einen Briefumschlag ein wenig anfeuchtete und danach über eine Wärmequelle hielt, konnte man den Kleber lösen, ohne den Umschlag zu zerreißen. Das hatte schließlich den Ausschlag gegeben.
Ihn zu überreden, es sofort, noch in derselben Nacht zu tun, war jedoch nicht einfach gewesen. Erst als sie ein Taxi bestellt, sich hinein gesetzt und ihn gefragt hatte, ob er nun endlich käme, war er, sozusagen vor vollendete Tatsachen gestellt, endlich einverstanden gewesen, und das hatte sie nicht gewundert, denn der Taxifahrer hatte sie erst über die Brücke nach Jena Ost und dann durch ein düsteres Wohnviertel eine nicht enden wollende steile Straße hoch gefahren, und Caro war sich sicher gewesen, dass sie den Weg zu Fuß niemals hätte bewältigen können.
Gegen vier Uhr morgens hatten sie dann, in Falks Zimmer am Schreibtisch sitzend, den Lederbeutel hervorgekramt, den Umschlag mit etwas Wasser aus der Schüssel benetzt, über der Kerzenflamme geschwenkt, vorsichtig geöffnet und mit großen Augen den Inhalt bestaunt.
*
Genau das taten sie jetzt, im Tageslicht auf der Terrasse, erneut.
„Dir ist klar, was das bedeutet, Falk, oder?“, sagte Caro, und deutete auf den Grundriss. „Das ist eine Schatzkarte.“
„Ja, na klar, und ich bin Indiana Jones.“
„Komm schon, du weißt was ich meine: da ist irgendwas versteckt auf der Leuchtenburg, in dem markierten Zimmer. Das ist die einzige in Frage kommende Erklärung!“
Caro überlegte schon, wie sie am schnellsten zur Burg gelangen könnten. Nach Kahla waren es etwa 20 Kilometer, wusste sie, und von dort ging es noch einmal den ganzen Leuchtenberg hinauf, vorbei am Dorf Seitenroda, bis schließlich auf dem Gipfel die Burg thronte.
„Genau, die alte Marie hat da ihr Gebiss versteckt, mit ihren Goldkronen, und war dann aus irgendwelchen Gründen der Meinung, dass es ihrem Kumpel Mark zustehen würde.“, maulte Falk.
Caro beachtete ihn nicht. Am besten würde sie gleich Melanie anrufen, um sich deren Auto zu leihen. Sie wollte schon aufspringen und ihr Handy holen, als ihr einfiel, dass Melanie ja gestern Abend abgesagt hatte und vermutlich nach Nordhausen zu ihren Eltern gefahren war.
„Hast du eigentlich ein Auto?“, fragte sie Falk.
„Hab keinen Führerschein.“, antwortete der, gähnte und fuhr sich durch die Haare, die nun, da sie langsam trockneten, struppig aussahen wie bei einem in die Jahre gekommenen Schäferhund. „Hast du mir überhaupt zugehört?“
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