Es nutzte aber nichts, ich musste mit.
Das wurde die schlimmste Reise meines Lebens. Jeden Tag bangte ich um mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Mutter fuhr ein weißes MG Cabrio, ein sehr schönes Auto. Ein kleines Wunder, dass wir später wieder heil in Köln landeten.
Wir fuhren also los, nicht ohne dass mir vorher ein paar schicke Kleider gekauft wurden. Sie wollte sich schließlich nicht total blamieren mit ihrer nunmehr etwas pummeligen Tochter. Meine ersten anständigen Kleider. Im Internat war ich das am schlechtesten gekleidete Mädchen.
Meine Mutter war auf der Reise sehr sparsam. Sie brauchte Geld für Wein, der Pegel musste schließlich ständig aufgefüllt werden. Es gab nicht viel zu essen. Wein und Käse am Straßenrand, eigentlich recht romantisch, denn es war eine wunderbare Umgebung. Italien war schön, wenn der Wein nicht gewesen wäre. Abends gab es ab und zu Spaghetti, in Deutschland zu der Zeit noch recht unbekannt.
Die Straßen waren damals in Italien teilweise noch in mittelalterlichem Zustand. Autobahnen gab es fast keine, es ging also über Land. Und mehr als einmal hingen wir mit den Reifen irgendwie über einem Abgrund, ob gewollt oder ungewollt. Mindestens dreimal am Tag erklärte meine Mutter mir, dass es besser wäre für sie und auch für mich, wenn sie jetzt einfach geradeaus weiterfahren würde, was hieß, in den Abgrund zu sausen. Sie war eigentlich eine gute Autofahrerin, aber mit dem Alkohol und ihren Todeswünschen wurde jeder Tag zu einer Tortur für mich. Von genießen konnte man da nicht sprechen. Es waren auch die längsten vierzehn Tage meines Lebens. Ich hatte mir geschworen, mich nie mehr in ein Auto zu setzen. Welche Todesängste ich da ausgestanden habe, kann man sich gar nicht vorstellen. Ich habe kaum geschlafen vor Angst und essen konnte ich fast gar nichts. Abgesehen davon gab es ja auch nicht viel. In den vierzehn Tagen habe ich fünf Kilo abgenommen und die neuen Kleider hingen nur so an mir runter, was meine Mutter auch wieder aufregte. Damals gab es leider noch nicht den sogenannten Schlabberlook.
Das Reisen hat sie mir gründlich vermiest. Ich hasse Reisen heute noch, mache es nur, wenn es unbedingt sein muss.
Zurück in Köln herrschte eine schlimme Stimmung zwischen Robert und Anne.
Eines jedoch hat mir Spaß gemacht. Ich konnte meine Cousine Vera und meinen Vetter Marcus jetzt öfter sehen, denn die Belgier hatten das Waldhotel als Offizierskasino wieder freigegeben. Nun konnten Robert und Anne wieder über das Hotel verfügen. Aber zwei Betriebe waren selbst ihnen zu viel, also überredete Robert seine Schwester Josi, das Hotel von ihm zu pachten. Josi war eine geschäftstüchtige Frau und machte ihre Sache gut. Eine Schenke wurde eingerichtet, eine Kegelbahn angelegt und alles lief bestens. Der Umsatz stimmte und alle waren zunächst zufrieden.
Marcus und Vera verbrachten nun all ihre Ferien vom Internat im Waldhotel. Das war sehr schön für uns Kinder.
Im Internat hatte ich inzwischen eine Freundin gefunden, Iris. Sie sollte noch viele Jahre meine einzige Vertraute bleiben. Sie hat es immer verstanden, mich zu trösten, wenn ich ihr nach den Ferien meine Horrorgeschichten aus Köln erzählte.
Sie kam aus Stuttgart. Ihre Mutter war alleinerziehend und es fiel ihr schwer, das Schulgeld für Iris aufzubringen. Im Internat gab es alle zwei Wochen Heimfahrtage. Ich wohnte zu weit weg, konnte also nicht nach Hause fahren, worüber ich nicht gerade betrübt war, wenn auch die Wochenenden im Internat ziemlich öde waren.
Es war kaum jemand da und meine Lieblingserzieherin musste sich immer sehr zurückhalten, denn es war den Erzieherinnen verboten zu enge Beziehungen zu einzelnen Kindern aufzubauen.
Das war ein Kündigungsgrund. Später, als Iris und ich enger befreundet waren, durfte ich immer mit ihr nach Hause fahren. Dort ging es einfach, aber liebevoll zu. Das war schön. Ein bisschen eifersüchtig war ich aber auch.
Es wurde Sommer und meine Mutter beschloss, mit mir und Robert junior vier Wochen auf der Nordseeinsel Norderney zu verbringen, was ungewöhnlich war. Wahrscheinlich brauchte Robert freie Bahn in Köln. Leider war meine Mutter eine fanatische Anhängerin der FKK-Gemeinschaft, was hieß, man ging an den Nacktbadestrand, eine Lebensphilosophie. Sie ging also nur an diesen speziellen Strand, der weit weg von der Dorfmitte lag. Die Grenzen waren markiert und dort musste man sich nackt ausziehen, um den Strand betreten zu dürfen. Damals war es der einzige Nacktbadestrand in Deutschland.
Ich fand es entsetzlich, verständlich bei der strengen, christlichen, leibfeindlichen, prüden Erziehung in Stuttgart. Ich habe mich furchtbar geschämt. Meine Mutter konnte das ganz und gar nicht verstehen. Ich habe so lange geweint und genörgelt, bis sie es satt hatte und uns an den normalen Strand gehen ließ. Die meiste Zeit der Ferien habe ich dann mit meinem Bruder allein am Strand verbracht. Schon eine große Verantwortung für eine Zwölfjährige auf einen sechsjährigen, lebhaften Burschen den ganzen Tag aufzupassen und ihn zu versorgen, wochenlang, aber ich kam gut damit zurecht, mir gehorchte Robert junior immer.
Eine Episode vom FKK-Strand zeigt, wie naiv Kinder mit zwölf Jahren zu der Zeit waren.
Wir wollten alle zusammen ins Meer gehen, Bübchen und ich liefen schon mal vor. Wir sahen eine Menschentraube an der Seite. Neugierig gesellten wir uns dazu und sahen mitten in der Menge einen nackten Mann stehen. Alle anderen waren natürlich auch nackt und beschimpften den Mann wüst. Ungerührt blieb dieser jedoch stehen und grinste. Ich verstand nicht, was da vor sich ging, schließlich war der Mann doch verkrüppelt, der Arme! Ich dachte noch, wie kann der jemals eine Hose anziehen, der arme Mann, da riss mich meine Mutter am Arm und marschierte wütend aufs Meer zu. Hat auch gar kein Mitleid, die blöde Kuh, dachte ich. Robert junior tapste einfach hinterher.
Die nächsten Monate ging es rasant abwärts mit der Ehe meiner Eltern. Meine Mutter trank jetzt sehr viel, selten wirkte sie jedoch betrunken. In den Herbstferien fing sie an, mich zu tyrannisieren, indem sie mich nachts betrunken aus dem Bett scheuchte, egal ob es zwei Uhr oder vier Uhr morgens war. Immer suchte sie irgendetwas, ihre Zigaretten, ein bestimmtes Kleid, Schuhe oder ihren Schmuck und ich musste ihr suchen helfen. Dabei heulte und schrie sie. Das ging gut, denn keiner hörte es da ganz oben und mein Vater nächtigte meist aushäusig. Es war der reinste Psychoterror. Ich habe sie verachtet und gehasst. Irgendwann hat es auch mir gereicht und ich habe sie angebrüllt, sie solle ihren Kram selber suchen und die Tür zugeknallt, was zur Folge hatte, dass sie mich wüst beschimpfte, wie undankbar und herzlos ich sei, eiskalt, wie mein Vater. So ging es stundenlang weiter. Raus aus meinem Zimmer, rein in mein Zimmer. Ich war einfach nur müde und wollte schlafen und habe die Tür abgeschlossen. Was tat sie? Sie hat die Tür eingetreten. Das hat dann selbst sie zur Räson gebracht. Meinem Vater hat sie weisgemacht, ich hätte mich eingeschlossen und nicht mehr aufgemacht und sie sei in Panik geraten, dass etwas passiert sei. Mein Vater hat nichts gesagt, mich nur angeschaut.
Ich denke, er wusste, was Sache war.
Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich schuldig gefühlt. Dabei hatte ich doch gar nichts getan. Schuld und Angst begannen mein Leben zu bestimmen.
Heiligabend haben wir alle noch friedlich mit Josi, Vera und Marcus verbracht. Alles war schön geschmückt im Savoy. Wir Kinder haben Verstecken gespielt im ganzen Hotel. Die Erwachsenen schlürften Champagner und die Austern gleich dazu. Einziger Wermutstropfen war, ich konnte kein Weihnachtsgedicht aufsagen, obwohl es vorher schon geklappt hatte. Ich brachte nur ein Gestammel zuwege und meine Mutter war wütend ob ihrer stupiden Tochter.
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