Ein paar Jahre lang sahen Vera und Marcus ihre Mama nur alle vier Wochen, wenn sie es schaffte, den Bus über Land zu nehmen, um einen Tag mit ihren Kindern zu verbringen. Einmal hat Josi mich mitgenommen. Es war schrecklich dort. Alle hatten Schürzchen an, auch die Jungen. Ich war sehr verwundert, sie durften sich nicht schmutzig machen. Marcus und Vera waren ganz dünn geworden. Ich glaube, sie haben dort nicht genug zu essen bekommen. Beide haben den ganzen Tag immer wieder geweint und ich gleich mit. Josi hat mit uns geschimpft. Ich bin nie mehr mitgefahren.
Inzwischen war auch Onkel Paul, der Bruder von Robert, im Hotel gelandet. Er hatte eine Tschechin geheiratet, die ein kleines Mädchen bekam. Zwei Wochen nach der Geburt ist seine Frau gestorben.
»Sie hatte TBC«, sagte Onkel Paul. Das Kind hieß Alina. Es blieb zunächst bei der tschechischen Oma.
Paul suchte Arbeit, fand aber keine. So blieb er erst mal bei Robert und Anne, tat dies und das und sonst auch nichts.
Eines Tages verschwand er einfach und war für recht lange Zeit nicht auffindbar. Man war nicht traurig, schließlich soll er doch ein guter Esser gewesen sein. Dann überstürzten sich mal wieder die Ereignisse.
Es kam die Währungsreform, die gefürchtete und dennoch auch herbeigesehnte. Von einem Tag auf den anderen gab es keine Reichsmark mehr, die sowieso nichts mehr wert war. Die DM-Zeit war angebrochen. Ein Glück für viele, Pech für andere.
Mein Opa Fritz, schlau wie er war, hatte sein restliches, gerettetes Geld aus der Uckermark noch rechtzeitig in Schmuck und Goldstücken angelegt, immerhin war auch er jetzt kein ganz armer Mann. Sorgsam versteckt hütete er seine Schätze, kannte er doch seinen Schwiegersohn Robert.
Jeder Deutsche bekam zunächst ein Kopfgeld von vierzig DM vom Staat. Bei Betrieben, Banken und so weiter galten einige Sonderregelungen. Und dann ging es rasant aufwärts mit der deutschen Regierung und dem Wiederaufbau des zerstörten Landes. Nicht zuletzt auch begründet mit dem viel gerühmten deutschen Fleiß und der Gründlichkeit. Es herrschte viel Armut im Land, aber der Aufstieg begann, besonders für die Menschen, die geschäftstüchtig, waghalsig und skrupellos waren und diejenigen, die auf die eine oder andere Weise etwas beiseite legen konnten.
Wir wollen jedoch Irene nicht aus den Augen verlieren. Sie wurde und blieb immer eine biedere Hausfrau. Sie heiratete einen Bergmann mit Aufstiegschancen. Es hieß, sie ließ ihm keine Ruhe, bis er neben seinem anstrengenden Beruf als Steiger und Vormann unter Tage eine Abendschule besuchte und es tatsächlich bis zum Ingenieur schaffte. Jetzt war man wenigstens Frau Ingenieurin, war etwas Besseres und konnte die Nase höher tragen als die anderen Frauen in der Bergbausiedlung. Dort hatte immerhin fast jeder von der Knappschaft ein Reihenhäuschen zur Verfügung gestellt bekommen, mit Vorgärtchen und Hintergärtchen für Gemüse, und sogar Kartoffeln wurden dort angebaut. Jedes Jahr etliche Zentner Kohle und auch Elektrizität umsonst. Man lebte nicht üppig, aber man kam zurecht und sonntags stand der Napfkuchen mit Margarine auf dem hübsch gedeckten Kaffeetisch mit eigenhändig gestickter, gestärkter Weißleinendecke. An hohen Feiertagen gab es all das in Butterausführung und mit Zuckerguss. Man war zufrieden.
Egon hieß er, der Mann von Irene. Ein lieber Kerl, zurückhaltend, mit kölschem Humor.
Sie bekamen einen Sohn und nannten ihn Georg.
Er wurde später auch in ein Internat zu den Jesuiten geschickt. Georg blieb der Kirche treu und wurde Priester, stieg hoch auf in der Hierarchie der Kirche und bekam das bronzene Verdienstkreuz der Bundesregierung verliehen, da er ein weltweit bekanntes Kindermuseum in Frankfurt gegründet hatte. Sein Fall war dann so tief wie sein Aufstieg. Es war ihm nicht möglich, das Zölibat einzuhalten. Er trennte sich von der Kirche und heiratete eine Journalistin. Die Kirche nahm ihm seine Entscheidung mehr als übel. Es ging ihm wie vielen anderen Priestern vor ihm. Er wurde gezwungen, seine Rentenansprüche, die er in der langen Zeit im Dienste der Kirche erworben hatte, weitgehend aufzugeben. Die Ehe scheiterte. Um im Alter über die Runden zu kommen, trug er des Morgens früh täglich Zeitungen aus.
So kann’s gehen.
Aus heiterem Himmel stand Irenes Bruder Paul mit seinem kleinen Töchterchen Alina vor ihrer Tür und flehte sie an, das Kind bei sich aufzunehmen. Die tschechische Oma war gestorben. Nur für ein paar Wochen, versprach er. Mehr als widerstrebend nahm Irene Alina bei sich auf, in der Annahme, dass ihr Bruder Wort hielt und das Kind bald wieder abholen würde. Leider machte er sich mal wieder für ein paar Jahre einfach aus dem Staub. Ein seltsamer Vogel, mein Onkel Paul. Er hatte den Trick raus, immer dann zu verschwinden, wenn es unbequem wurde.
Keiner wusste, wo er war, und Irene war wütend, um nicht zu sagen, sie wurde rasender von Tag zu Tag ob dieser Frechheit, zumal das Kind immer kränkelte, spirrelig war, dünnbeinig und ein wenig hässlich, wobei Irene nicht versäumte, es dem Kind so oft wie möglich vorzuhalten. »Ein Bankert bist du«, aber es ins Waisenhaus geben, dafür hatte sie dann doch nicht den Nerv.
Die Stimmung im Häuschen wurde immer angespannter. Einzig Egon war nett zu dem armen, hässlichen Entlein und es sollte noch einige Zeit dauern, bis Paul wieder auftauchte.
Im Waldhotel bei Anne und Robert tat sich einiges. Zunächst einmal wurde Anne schwanger und mein Bruder Robert junior, unser Bübchen, wurde im Turmzimmer geboren, eine Hausgeburt. Mein Vater war außer sich vor Freude. Ich sehe ihn noch heute die Treppe der zwei Etagen herunter springen, brüllend vor Freude:
“Ein Sohn! Ein Sohn!“
Ein Stammhalter war damals noch etwas ungeheuer Wichtiges. Ich rückte in die zweite Reihe. Mir machte es nicht viel aus, war doch mein kleiner Bruder so süß wie eine kleine Puppe, mit der ich spielen konnte. Gäste und Personal waren gleichermaßen gerührt von so viel überschäumender Freude des Vaters.
Wie wenig liebevoll sind Robert und Anne jedoch mit ihren Kindern umgegangen. Richtig verstehen wird man das nie. Als betroffenes Kind weiß man zunächst noch nicht einmal, dass es eine traurige, einsame Kindheit ist. Lange Zeit denkt man, es ist überall so, dass Vater und Mutter sich praktisch gar nicht um ihre Kinder kümmern.
Fritz und Frieda waren jedoch stolze Großeltern und übernahmen auch Bübchen und versorgten ihn so liebevoll, wie sie es eben konnten. Wobei man nie vergessen darf, meine Großmutter war eine sehr kranke, gestörte Frau.
Fritz langweilte sich so ohne Arbeit und begab sich jeden Morgen mit mir an der Hand in die nächste Kneipe »Zur Linde«. Dort saßen schon die Kollegen, ebenso ohne Arbeit wie er, und nahmen ihr Rentnergedeck zu sich. Das hieß so drei oder vier von diesen sogenannten Gedecken, jeweils ein Bier und einen Korn. Ich, das Enkelkind Laura, bekam immer ein kleines Schlückchen Bier, mal gerade einen Fingerbreit voll, in einem Gläschen serviert, was mich stolz machte, schließlich gehörte ich doch mit zu dieser Runde. Erst mochte ich es gar nicht, aber dann gewöhnte ich mich an das bittere Zeug.
Frieda war sehr besorgt ob dieser Angewohnheit, aber sie hatte alle Hände voll mit Bübchen zu tun.
Dann sollte sich wieder einiges ändern.
war die Besatzungszone der Belgier und diese suchten ein Offiziersquartier größeren Ausmaßes. Sie traten an meinen Vater heran. Viel gefragt wurde nicht, man beschlagnahmte einfach das Hotel kurzerhand. Die belgischen Besatzer hatten den Besitzern jedoch eine einigermaßen angemessene monatliche Nutzungsentschädigung zu zahlen.
Die Stadt Köln hatte die Aufgabe, der jeweils dort ansässigen Familie ein Quartier zur Verfügung zu stellen. So war das Abkommen, das zwischen der belgischen und der deutschen Regierung vereinbart worden war, wenn etwas beschlagnahmt werden sollte.
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