Das Schimpfen hörte erst auf, als der Schrei kam.
Mit diesem Schrei endete alles.
Nicht nur das grausige Zerren an Augusts Kragen und das nervige Gezeter von Anna, sondern auch Augusts erbarmungswürdige Lage. Nach dem Schrei erklang der dumpfe Laut eines Aufpralls, von dem August glaubte, ihn selbst verursacht zu haben. Er krachte in dem Moment, in dem Anna ihn losließ, frontal auf die nächste Treppenstufe und blieb kurzzeitig benommen liegen. Um ihn her war es ungewohnt still.
Die Stille blieb nicht lang, denn durch den Schrei und das Gepolter waren einige weitsichtige Hausbewohner auf die Idee gekommen, es hätte ja im Treppenhaus etwas passiert sein können. Dementsprechend stürzten nun ein paar aufgewühlt herbei, planlose Entsetzenslaute machten sich unter ihnen breit. Einer rief, es solle ein Notarzt kommen. August verstand nichts davon.
Verunsichert mühte er sich, den Kopf zu heben und tatsächlich! Von einem heftigen Pochen in den Schläfen begleitet, gelang es ihm, das Kinn etwa einen Zentimeter von der Brust zu lösen. Noch einer kam hinzu, dann noch einer. Nun erst wurde August gewahr, was um ihn her vor sich ging.
Diverse Nachbarn umkreisten ihn, gingen neben ihm in die Hocke, fühlten seinen Puls, seine Stirn, fragten ihn Zeug, das er nicht kapierte. Unten, das begriff er dafür sehr gut, am Fuß der Treppe lag seine Schwester, nicht sonderlich weit von August selbst entfernt. Leblos wirkte sie, Blut umgab ihren Kopf, der etwas unnatürlich kurz unterhalb der Treppe ruhte. Ihr Gesicht war abgewandt, August konnte es nicht erkennen.
Er war in der Lage, sich halbwegs aufzurichten, sich gegen eine freundliche, ältere Nachbarin zu lehnen, die ihm tröstend den Kopf streichelte und sich soweit zu erholen, dass er die Besserung seines Zustandes direkt bemerkte. Die Last auf seinem Kopf war zwar deutlich spürbar, aber sie hatte sich erheblich gemindert. Wenn er sich anstrengte, konnte er den Kopf sogar beinahe normal halten, so normal, wie andere auch. Es fehlte ihm der Mut, um diese neue Fähigkeit weiter zu erproben. Daher ließ er den Kopf wieder hängen und die Nachbarin schob sein Gesicht gegen ihren Busen. Leise sagte sie zu ihm: Sieh nicht hin, Kind, sieh nicht hin.
August hatte aber schon alles gesehen. Und er deutete die Lage folgendermaßen:
Anna war tot. Er, ihr Bruder, hatte sie umgebracht.
Das empfand er keineswegs als Verbrechen, schließlich hatte er sich bloß gewehrt. Notwehr. Die rücksichtslose Anna war schuld daran, sie allein. Da konnte August sich sicher sein. Vielleicht war deshalb der Berg um einiges geschrumpft, hatte sich eingeschüchtert zurückgezogen.
Und August merkte es: Schuldlosigkeit fühlte sich ziemlich gut an.
Überhaupt meinte August, sich selten so gut gefühlt zu haben wie in diesem Augenblick. Selbstverständlich schmerzte das Pochen in seinen Schläfen ordentlich, auch eine Schulter hatte bei dem Aufprall gelitten. Innerlich dagegen hatte sich in August zum ersten Mal ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein gebildet, das ihm die Kraft gab, den Mund zu öffnen und zu der netten Nachbarin zu sagen: Ich kann nichts dafür. Es ist nicht meine Schuld.
Die Nachbarin, die die Worte mehr erahnt als gehört hatte, weil sie August mit dem Gesicht weiterhin gegen ihren Busen drückte, erwiderte beruhigend: Sicher nicht, Schätzchen. Es wird ein furchtbarer Unfall gewesen sein. Ein ganz furchtbarer Unfall.
Weiter unten im Haus schlug ein Nachbar vor, die Mutter zu holen. Doch niemand wusste, wo sie war.
Sie fehlte, als der Notarzt zu spät eintraf; sie fehlte, als Annas toter Körper in einem schwarzen Sack abtransportiert wurde; sie fehlte, als sich einer im Haus an den Namen von Augusts Vater erinnerte und die hinzugezogene Polizei sich bereit dazu erklärte, diesen zu finden und August zu ihm zu bringen.
Niemand fragte August, ob er überhaupt zu seinem Vater wollte.
Zunächst war August verblüfft. Vor lauter ehrlichem Erstaunen konnte er sich gar nicht regen; festgewachsen verweilte er auf der Türschwelle und legte seinen schweren Kopf dabei soweit in den Nacken, wie es ihm eben möglich war. Die beiden Polizistinnen hinter sich hatte er lange vergessen.
Mit weit aufgerissenen Augen bemerke er nicht, wie eine seiner beiden Begleiterinnen sanft nach seinen Schultern fasste und dagegen drückte, damit August sich bewegte. Zu seinem Vater hin sollte er gehen, doch August steckte irgendwo zwischen Faszination und Angst fest. Die Angst wollte ihn zur verständlichen Flucht drängen, die Faszination zog ihn in ihrer sonderbaren Art hin zum unbekannten Vater.
Sein Vater war ein Riese.
Und August hatte sich seinen Vater nicht als Riesen vorgestellt.
Eher als kleinen, dicklichen, friedfertigen, rosanen und herzlichen Mann mit wenigen Haaren und einem freundlichen Lächeln. Wie August zu dieser Vorstellung gekommen war, wusste er selbst nicht. Erinnern konnte er sich nicht, er war zu klein gewesen, als er seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. Fotos waren vernichtet worden, wie es nach Scheidungen geschieht. Das Unliebsame auslöschen zu Ungunsten des ehemals Liebsamen – schöne Erinnerungen werden verdrängt, weil sie untrennbar an den hässlichen hängen. Seit Augusts zweitem Lebensjahr hatte seine Mutter sämtlichen Kontakt mit seinem Vater unterbunden – das sei kein Vater, hatte sie behauptet, das sei ein mieses Schwein.
Nicht auszuschließen, dass diese permanente Erwähnung des Vaters als Schwein Augusts eigenartige Vorstellung eines kleinen, rundlichen Mannes hervorgebracht hatte.
Sein richtiger Vater hatte rein gar nichts von einem Schwein.
August verstand nicht, wie seine Mutter zu dieser Bezeichnung gekommen war. Zwar hatte er nichts gegen Schweine, er empfand sie sogar als amüsante, niedliche, knuffige, knuddelige Tierchen, die in Form eines Sparschweins sogar Taschengeld bewachen konnten. Trotzdem war August auch ein wenig erleichtert, dass sein Vater eben doch keinem dieser Tiere glich. Ein Schwein taugt eben eher als Schwein und nicht so sehr als Vater.
Der Riese war stämmig und hatte dichtes, dunkelbraunes Haar. Seine breite Nase schien von einem Schlag angematscht worden zu sein, die Ohren standen leicht von seinem Kopf ab. August wunderte sich.
Schließlich ließ er sich endlich dem Riesen entgegenschieben, eine Polizistin sagte zu dem Vater: Es ist wahrscheinlich nur für diese Nacht. Bis wir seine Mutter gefunden haben und bis sie sich beruhigt hat. Sie wird einen Schock bekommen, wenn sie vom Tod Ihrer Tochter erfährt.
Der Riese nickte, wechselte einige unbedeutende Worte mit den beiden Polizistinnen und schloss die Tür hinter August. August blieb stumm. Beeindruckt von der unerwarteten Erscheinung seines Vaters, wagte er gar nicht zu blinzeln.
Der Kleine schaute hoch, der Große schaute hinunter und beide wussten sich nichts zu sagen.
Sie kannten sich nicht und waren nichtsdestotrotz Vater und Sohn.
Der winzige August, dessen Nacken vor Anstrengung zitterte, weil er seit Minuten gegen den schweren Berg ankämpfen musste, wirkte zerbrechlich und schwach gegen den mächtigen Vater. Allerdings war dieser, trotz seines mutigen Aussehens, viel zu feige, um seinen Sohn in väterlicher Manier zu begrüßen, ihn in die Arme zu schließen, ihm einen Kakao anzubieten. Es reichte nicht einmal für ein leises Hallo. Reine Körpergröße nutzt einem gegen Kinder eben gar nichts. Erstrecht nicht gegen die eigenen.
Ohne Wort standen sie, bis der Vater sich endlich ein Herz nahm und mit dunkler Stimme sprach: Komm.
Er ging voraus und August trottete, wie verzaubert, hinter dem Vater her. Je länger er ihn ansah, desto stolzer wurde er auf ihn. Sein Vater war ein richtiger Riese. Was kann es Besseres für ein Kind geben? Gemeinsam stelzten sie nacheinander, gezeichnet von unnatürlich steifgliedriger Unsicherheit, in die Küche. In der war kaum genug Platz für Augusts Vater, so blieb August in der Tür stehen und wartete. Der Vater schaute hilflos in den Kühlschrank, in die Schränke und fragte: Hast du Hunger? Willst du, willst du etwas essen?
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