Damit ihr euch den Geburtsort eures Vaters besser vorstellen könnt, meine lieben Jungen, müßt ihr das lesen, was Tante Julia in ihrer Skizze »Die transkaukasische Steppe« geschrieben hat. Ich habe sie zu ihren Briefen an die Pekoks gelegt, weil ich glaube, daß sie für sie so etwas schreiben sollte. In einer anderen Redaktion ist sie in ihr Tagebuch eingegangen. Tante Julia kam Ende 1880 oder im Januar 1881 nach Jewlach, also später als Mama und noch später als Papa.
Und so wurde ich in der Steppe, mitten in einer wilden Gegend am 9. Januar 1882 gegen sieben Uhr abends geboren, zu einer Stunde, die mir immer die liebste war. Diese Abendstunde zwischen sechs und sieben ist immer meine Stunde gewesen, und bis heute gibt es für mich nichts, was süßer, traulicher und mystischer im guten Sinne wäre als diese Stunde der Klarheit, des Friedens und der beginnenden Kühle. Der aufleuchtende Abendstern, das Licht in der Dämmerung...
Zu meiner Geburt hatte man eine Hebamme aus Tiflis geholt. Außerdem kamen die Schwestern meiner Mutter, Tante Lisa und Tante Remso, die damals siebzehn war, und möglicherweise auch Tante Sonja. Man nannte mich Pawel, zu Ehren des Apostels Paulus, wenn man überhaupt an den heiligen Apostel gedacht hat, und zum Gedenken an meinen Großvater Pawel Gerassimowitsch Saparow, der kurz zuvor gestorben war. Zunächst nur im Familienkreis, ohne den Geistlichen (übrigens gab es erst in Tiflis einen orthodoxen Geistlichen); getauft wurde ich erst ziemlich spät, teils weil es kaukasischer Sitte entsprach und teils vermutlich, weil meine Eltern den Mysterien gleichgültig gegenüberstanden.
An das Leben in Jewlach kann ich mich selbstverständlich nicht mehr erinnern, aber meine Eltern und die Tanten haben mir über diese Zeit auch fast nichts erzählt. Oder wenn sie etwas erzählt haben, so ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Nur eines habe ich mir gemerkt, das hat mir Tante Sonja erzählt, die mich vor dem Ertrinken rettete. Die Sache war so: Mama und die Tanten badeten in der Kura, das Ufer war steil. In der Gewißheit, daß ich noch zu klein sei, mich vom Fleck zu rühren, hatte man mich an den Rand des Steilhangs gelegt. Ich muß aber doch bis zum Rand gelangt und den Hang hinabgerollt sein. Tante Sonja fing mich knapp über dem Wasser auf.
Dann weiß ich noch, daß mein Vater an Malaria erkrankte und sich deshalb beurlauben ließ. Die ganze Familie zog nach Karatschinar, wo sie den Sommer 1882 verbrachte. Im Herbst zogen wir nach Tiflis, das war der Herbst des Jahres 1882.
In Jewlach haben wir nur anderthalb Jahre gelebt, einen Winter, einen Sommer und noch einen Winter
Von meinem Leben in Tiflis habe ich zwar sehr genaue, aber nur einzelne Eindrücke in Erinnerung behalten. Da aber die ersten Kindheitseindrücke das fernere innere Leben bestimmen, versuche ich, so genau wie möglich aufzuschreiben, was mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben ist. Allerdings wird diese Schilderung nicht ganz chronologisch sein.
1916.18.XI. Sergijew Posad. Nacht
Wir wohnten in zwei Wohnungen. In der einen befand sich das Eßzimmer, das Wohnzimmer und einige Schlafzimmer. In der anderen wohnten ich und Tante Julia, d.h. wir beide wohnten im Seitengebäude. Verbunden waren die beiden Gebäude durch einen Hof, der mit Steinen gepflastert war, durch die das Gras hindurchwuchs. Gewöhnlich war ich in Begleitung eines Erwachsenen, traute mich manchmal aber auch schon allein über den Hof. Einmal aber, als ich im Eßzimmer saß, es war am Tage, bekam ich Sehnsucht nach Tante Julia oder nach Mama, die aus dem Seitengebäude nicht zu uns anderen herübergekommen war, und lief zu ihr oder wollte sie holen. Ich erinnere mich noch genau, wie das war. Ich öffnete die Tür, lief zwei, drei Stufen hinab und blieb unter dem ziemlich dunklen Vordach am Haus stehen. Ich weiß noch, daß dieses Vordach auf ungestrichenen Holzpfählen ruhte, sie waren ohne Rinde, grau vom Regen... Entweder ist es doch schon gegen Abend gewesen oder es schien keine Sonne, jedenfalls hatte ich den Eindruck von Dämmerung. Und da erblickte ich etwas auf dem Steinpflaster des Hofes, durch das das Gras wuchs, vielleicht war es schon Herbst – ich sehe dieses Pflaster wie heute vor mir. Besser: hörte es zuerst – einen eigentümlichen Laut, den ich noch nie vernommen hatte. Ich erschrak. Aber Neugier und Wagemut siegten. Ich entschloß mich, ganz schnell vorbeizuhuschen und auf mein Ziel zuzueilen. Doch als ich mit halbgeschlossenen Augen ein Stück gerannt war, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor mir erhob sich eine Vorrichtung, die ich noch nie gesehen hatte. Etwas drehte sich ganz schnell, kreischte, knirschte, und von einem Rad sprangen helle Funken. Aber was das Schrecklichste war: als dunkle Silhouette am wohl schon abendlichen Himmel stand an dieser Vorrichtung ein Mensch – ruhig, unerschütterlich und furchtlos und hielt etwas in den Händen...
Ich stand da wie behext von dem Blick eines Ungeheuers. Vor mir taten sich die Abgründe der Naturgeheimnisse auf. Ich hatte etwas zu sehen bekommen, was kein Sterblicher sehen durfte. Die Räder des Hesekiel? Die Feuerwirbel des Anaximander? Den ewigen Kreislauf? Das noumenale Feuer... Ich war überwältigt, starr vor Entsetzen und zugleich von einer unbändigen Neugier gepackt, wohl wissend, daß ich, was ich sah und hörte, nicht sehen und hören durfte. Was sich mir eröffnete, war die lebendige Wirklichkeit der geheimnisvollen Kräfte der Natur, Böhmes Ungrund, Goethes Mütter. Und der da an der geheimnisvollen funkenschlagenden Vorrichtung stand, diese dunkle Silhouette, das war natürlich kein Mensch, das war eines der Wesen der Erde, das war der Geist der Erde, ein unermeßlich großes Wesen. Wahrscheinlich bemerkte es mich gar nicht...
Wie lange diese Offenbarung und diese Starre andauerte, weiß ich nicht. Eine Sekunde, mehrere Sekunden; jedenfalls nicht sehr lange. Und erst als der betäubende und furchtbare Augenblick der Vereinigung mit dieser feurigen Urerscheinung der Natur vorbei war, als ich wieder zu Bewußtsein kam, ergriff mich panischer Schrecken. Und nun eine charakteristische Einzelheit: Die Selbstbeherrschung, die mich auch in Augenblicken äußersten Entsetzens nie verläßt, zeigte sich auch damals, bei dieser ersten mir erinnerlichen geheimnisvollen Erschütterung meiner Seele. Ich verzagte nicht. Ein Sprung, und ich befand mich wieder im Eßzimmer, woher ich gekommen war, und erst hier, wie auch später in solchen Fällen, im sicheren Hafen, auf den Knien der Erwachsenen, gab ich dem Entsetzen nach. Ich bekam so etwas wie einen Nervenschock. Man gab mir Zuckerwasser zu trinken und beruhigte mich. »Das ist doch der Messerschleifer, der die Messer schleift, Pawlik«, sagten die Erwachsenen. »Komm, wir sehen uns das mal an.« Ich glaubte ihnen selbstverständlich nicht, widersprach aber auch nicht. Ich wußte damals schon, daß sie das Mysterium, das sich mir offenbart und über das ich mich entsetzt hatte, nicht fassen würden. Sie schlugen mir vor, mich über den Hof zu geleiten, aber auch dem ergab ich mich nicht. Schwer zu sagen, ob nur aus Furcht vor dem noumenalen Funkenstrom oder weil ich Angst hatte, ich würde das eben Erlebte nicht wieder erleben und nur sehen, was die Erwachsenen mir sagten, etwas ganz Gewöhnliches, das keinerlei Entsetzen einflößt... Noch lange danach fürchtete ich mich, allein über den Hof zu gehen.
Dieses Gefühl der Offenbarung der Naturgeheimnisse und des damit verbundenen Entsetzens vor Tjutschews Abgrund [in dem Gedicht „Tag und Nacht“], wie des Hingezogenseins zu ihm, gehörte und gehört, wie ich glaube, den tiefsten Regionen meines seelischen Lebens an.
Sehe ich mit noch schärferem Blick in mich hinein, stoße ich auf etwas, was mich unser Dasein in den beiden, durch den Hof verbundenen Wohnungen gelehrt hat. Es ist die feste, organische Gewißheit eines mystischen »es ist« gegenüber einem empirischen »es scheint«.
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