Der Impresario Giulio Gatti-Casazza (1869-1940)
Die Orchester saßen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht in einem Graben, sondern auf der Höhe des Parketts (so wurde beispielsweise der Orchestergraben an der Mailänder Scala erst auf Insistenz Toscaninis – das war eine der Bedingungen, an die er seine Rückkehr an die Scala knüpfte – 1906 eingebaut). Obwohl sie auch an großen Häusern zumeist schwächer als heute besetzt waren und auch die verwendeten Instrumente die Lautstärken heutiger Instrumente nicht erreichten, konnten sie aufgrund der hohen Sitzposition oft unangenehm lärmend sein. Die Partituren der Komponisten wurden, vor allem an mittleren und kleinen Häusern, vielfach nur als approximative Vorgaben aufgefasst und auf die Bedürfnisse der Sänger oder die Anzahl und das Können der von einem Theater engagierten Orchestermusiker und Choristen{35} abgestimmt. Dabei wurden bestimmte Passagen oder sogar ganze Szenen gestrichen, es wurden Instrumentalsoli ausgelassen und es kam oft zu Transpositionen oder Abweichungen von den vorgeschriebenen Tempi. Abgesehen von den üblichen eingelegten Kadenzen und Zusätzen, die bei selbstverliebten Virtuosen auch exzessiv ausfallen konnten, fügte mancher Sänger, dem seine Partie, so wie sie komponiert war, nicht gefiel, manchmal auch kurzerhand eine ihm besonders gut liegende Arie aus einer anderen Oper ein. Der Usus, mit einer sogenannten aria di baule – einer „im Koffer“ mitgeführten, jederzeit einsetzbaren Arie – zu brillieren, mit der man seine Fähigkeiten ins rechte Licht rückte, war eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Tradition, die noch nicht ausgestorben war. Wenn die Arie vom selben Komponisten wie der Rest der Oper stammte, konnte sich dieser noch glücklich schätzen, denn oft stammte sie auch aus der Feder anderer Musiker. So war es beispielsweise (u.a. auch in Wien) Usus, die Arie der Elvira in Ernani durch die Arie der Giselda aus I lombardi zu ersetzen. Bei Gefallen wurden diese Stücke wiederholt, meistens einmal, in manchen Fällen auch mehrmals.
Kurze Probenzeiten ließen vielfach keine ausgefeilten Interpretationen zustandekommen. Zu Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Italien die erste Orchesterprobe einer neuen Oper oft erst eine Woche oder gar nur wenige Tage vor der Premiere (auch weil die Komponisten die Orchestrierung üblicherweise erst bei ihrem Eintreffen vor Ort vornahmen und die Kopisten für das Herausschreiben der Orchesterstimmen Zeit benötigten), und sogar gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die neuen Opern zusehends komplexer orchestriert und schwerer zu spielen waren, ging man oft schon nach nur zwei bis drei Wochen Probenzeit in Szene.
Während der Vorstellungen blieb der Zuschauerraum erleuchtet, eine Gepflogenheit, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Noch 1816 war der Zuschauerraum der Mailänder Scala während der Vorstellungen dunkel geblieben. So schrieb der opernbegeisterte Stendhal{36} am 10. November 1816 aus Mailand: „Im Zuschauerraum gibt es keinen Kronleuchter{37}: der Zuschauerraum wird nur durch das Licht erleuchtet, das von den Kulissen reflektiert wird.“{38} Wenn nicht gerade bekannte oder bemerkenswerte Solostücke vorgetragen wurden, machte oder empfing das Publikum in den Logen Besuche, flanierte in den Gängen, um zu sehen und gesehen zu werden, man unterhielt sich, las Zeitung, aß und trank oder begab sich ins theatereigene Kasino auf ein Spiel. Doch auch diese Gewohnheiten kannten Einschränkungen, wie Stendhal am 16. Juli 1817 an seine Schwester schrieb:
Heute abend, dem Tag der prima recita{39} [von Rossinis La gazza ladra], waren alle Damen in den Logen in großer Gala, das heißt mit nackten Armen und Hälsen und großen Hüten, die mit prächtigen und riesigen Federn geschmückt waren – das mindeste, das man tun kann, wenn man vom Parkett aus gesehen werden will. Es herrschte absolute Stille: bei einer prima sera{40} macht man keine Besuche.{41}
Stendhal, eig. Henri Beyle (1783-1842)
In seiner Biographie des jungen Rossini wird Stendhal noch genauer:
Bei den Premieren verhält man sich still; bei den Folgevorstellungen nur dann, wenn die schönen Stücke kommen. Jene, die die ganze Oper hören wollen, suchen sich Plätze im Parkett, das riesig ist und mit ausgezeichneten Bänken mit Rückenlehnen ausgestattet ist, auf denen man sich sehr wohl fühlt, so sehr, daß englische Reisende indigniert zwanzig oder dreißig Schlafmützen zählen, die sich auf zwei Bänken ausgestreckt haben.{42}
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war es Usus, nach den Aufführungen – auch von extrem langen Werken wie Meistersinger oder Parsifal – ungeachtet der begreiflichen Erschöpfungszustände der Orchestermusiker noch ein Ballett aufzuführen. Man würde es nicht glauben, wenn man das Plakat der Falstaff-Uraufführung vom 9. Februar 1893 nicht gesehen hätte: Im Anschluss an Verdis letztes Meisterwerk, ein absoluter Höhepunkt der italienischen Operngeschichte, wurde an der Mailänder Scala das Ballett Die Puppenfee aufgeführt.
Das Plakat der Uraufführung des Falstaff
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden, wie Stendhal berichtet, zwischen den Akten der Opern Ballette gespielt. Der Ablauf eines Abends gestaltete sich folgendermaßen:
Die Wahrheit ist, daß hier [an der Mailänder Scala] die Aufführungen [fast] nichts kosten: 36 Centesimi für die Abonnenten. Und für diese Lappalie bekommt man: den ersten Akt der Oper, der eine Stunde dauert (man beginnt [mit den Vorstellungen] im Winter um halb acht, und um halb neun im Sommer); [es folgt ein] großes balletto serio, [das] eine weitere Stunde [dauert]; [dann folgt] der zweite Akt der Oper, [der] dreiviertel Stunden [dauert]; schließlich ein kleines komisches Ballett, das üblicherweise so unterhaltsam ist, daß man Tränen lacht, eine weitere Stunde.{43}
Die Wurzeln dieser heute vielleicht sonderbar anmutenden Gepflogenheit sind im Rinascimento zu finden. In Urbino, zwischen 1504 und 1508 kulturelles Vorbild Italiens, förderte der an den schönen Künsten interessierte Guidobaldo da Montefeltro, der Nachfolger seines hochgebildeten Vaters, des Herzogs Federigo da Montefeltro, den Gebrauch der italienischen Sprache für literarische Zwecke. Er ließ an seinem Hof Bernardo Dovizi Bibbienas Calandra uraufführen, eine der ersten italienischen Prosakomödien, ein gewagter, leichtgeschürzter Text. Hundert Jahre, bevor die Kunstform Oper entstand, sorgte ein hinter der Szene verborgenes Orchester für die musikalische Begleitung. Die Zwischenakte wurden – wie mehr als 300 Jahre später an der Mailänder Scala – zur Freude der Zuschauer, die auf Teppichen Platz genommen hatten, mit Ballett-Einlagen ausgefüllt. Bibbienas Calandra wurde sogar am päpstlichen Hof aufgeführt. Papst Leo X. zeigte an den Zweideutigkeiten durchaus Gefallen. Er hatte im ersten Jahr seines Pontifikats ein Theater auf dem Kapitol eröffnen lassen, wo 1518 Ariosts I Suppositi in einer Galavorstellung zur Aufführung kamen, deren künstlerischer Ausstattung großes Gewicht beigemessen wurde: Raffael{44} malte die Kulissen, auch hier wurde in den Zwischenakten ein Ballett gegeben, außerdem eine Zwischenaktmusik, bei der ein Chor sang und ein Orchester spielte, das aus Lauten, Violen, Hörnern, Dudelsäcken, Pfeifen und einer kleinen Orgel bestand.
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