„Was ist los, Schatz?“, fragte Sally.
„Ich muss kurz auf die Toilette.“, antwortete ich und machte mich auf den Weg.
Hinter dem Tresen führte eine Doppelflügeltür in den Sanitärbereich, der im dahinterliegenden Flur lag. Rechts der Flügeltür befand sich eine Treppe zu den Gästezimmern und auf der rechten Seite lag der Eingang zur Küche. Ich betrat die Herrentoilette. Bis auf ein Pissoirbecken waren alle besetzt. Drei Männer standen vor den Waschbecken und die Kabinen waren alle, bis auf zwei, besetzt. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt, um vor all den Notdürftigen die Türen einzutreten, um herauszufinden, ob der Typ gerade auf einem der Töpfe saß. Wenn er sich tatsächlich vor mir versteckte, dann würde er sicher noch eine zeitlang dort hocken bleiben. Da war es wichtig, den Gang im Auge zu behalten. Ich verließ die Toilette und ging zum Ende des Flurs. Auch hier kein Hinweis auf den Verbleib des Mannes, nur ein paar Gäste, die sich ein wenig umsahen. Ich ging zurück zur Treppe und begab mich in den ersten Stock. Auch hier dasselbe Bild. Eine Treppe, die in ein weiteres Stockwerk führte und dann der Flur, der um die einzelnen Gästezimmer führte. Hier war es im Gegensatz zum Erdgeschoß enorm ruhig. Kein Wunder, denn es war acht Uhr abends und die Gäste saßen im Speisesaal. Als ich gerade dabei war, die Treppe zum nächsthöheren Stockwerk zu nehmen, sah ich, wie der Mann vom Tresen gerade in ein Zimmer schlich und die Tür hinter ihm versperrt wurde. Als ich mich nähern wollte, verließ ein Zimmermädchen das benachbarte Zimmer und blickte mich fragend an. Ihr folgte ein Mann in einem dunklen Anzug, der das Schild mit der Aufschrift Bitte Zimmer reinigen vom Türknauf nahm. Vermutlich ein Hotelmanager.
„Mr. Engels?“, fragte er mich.
Ich überlegte kurz und bejahte schließlich. Ich wollte mir alle Optionen offen halten, bevor ich mich zu einer weiteren Vorgehensweise entschloss.
„Die Kaffeeflecken auf dem Teppich und der Wand wurden gesäubert.“
„Danke!“, antwortete ich freundlich. Das Zimmer grenzte direkt an jenes, in das soeben der Mann vom Tresen ging. Wenn ich schlau war … „Blöderweise habe ich den Schlüssel im Speisesaal vergessen. Könnten Sie mir ausnahmsweise die Tür für ein paar Minuten offen lassen?“, fragte ich.
„Selbstverständlich Mr. Engels!“ Dann wandte er sich an das Zimmermädchen. „Hast du verstanden, Bibi?“
„Ja.“, murmelte die etwas mollige Südländerin mit der weißen Schürze. „Ich gieße noch schnell die Blumen und lasse dann offen.“
„Später, bitte!“, mischte ich mich ein. „Ich muss nur kurz etwas holen und dann können Sie die Blumen gießen.“
„Aber der Putzkarren steht noch im Zimmer.“
„Kein Problem, er stört mich nicht. Ich brauche nur ein paar Minuten!“
„Kein Grund zur Eile!“, sagte der Mann im Anzug. „Bibi, du kannst zwischenzeitig Tracy mit Zimmer Zweiundzwanzig helfen!“
Schnell huschte ich mit einem freundlichem Lächeln an ihnen vorbei ins Zimmer. Links standen große dunkle Holzkleiderkästen, danach folgte die Tür zum Badezimmer und auf der anderen Seite befand sich die Toilette. Anschließend gelangte ich in einen großen Wohnraum, wo links hinter der Mauer ein Doppelbett stand und rechts gegenüber eine bequeme Wohnzimmernische mit einem kleinem Tisch, Sesseln und einem Flachbildfernseher. Dahinter war die Wand, die ans Nachbarzimmer grenzte. Ich lehnte mein Ohr an diese, um vielleicht etwas von nebenan mitzubekommen. Die Wand war zum Glück nicht dick und ich konnte tatsächlich jemanden sprechen hören. Leider verstand ich kein Wort. Ich musste einen Weg finden, um mithören zu können. Wenn man sich in einem geschlossenem Raum unterhielt, selbst wenn man dies leise tat, breitete sich das Gesagte in Form von Schallwellen im ganzen Raum aus und brachte Wände sowie Glasfenster zum Vibrieren. Das nannte sich Festkörperschwingung. Ich musste ein Hilfsmittel finden, um diese Spannungsimpulse zu verstärken. Am besten eignete sich dafür ein hundsordinäres Wasserglas. Also schaute ich mich um. Auf dem Tisch standen viele Utensilien - Aschenbecher, Zigarettenpackung, Feuerzeug, Zuckerdose und eine Thermoskanne. Neben der vorderen Mauerkante stand der Putzkarren von Bibi mit jeder Menge Putzmitteln, Handtücher, Kübeln, Besen, Putztücher und einem Set zur Pflanzenpflege. Ich eilte ins Badezimmer und hatte Glück. Statt der üblichen Zahnputzbecher aus Plastik standen hier welche aus Glas. Ich schnappte mir eines und lief zurück. Ich drückte das Glas an die Wand und mein Ohr gegen den Glasboden.
„... bin mir sicher!“, sagte eine Männerstimme.
„Na gut!“, antwortete eine andere Stimme, die sich von der ersten durch eine tiefere Tonlage unterschied.
„Wo hast du ihn?“, fragte die erste Stimme.
„Hier!“
Dann wurde es kurz leise und ich konnte nur ein undeutliches Murmeln verstehen.
„ … falls Enbi die Explosion überlebt, werden sie ihn mit Blei vollpumpen!“, sagte wieder die erste Stimme.
„Wahrscheinlich wird es auch Kollateralschäden geben.“, sagte die zweite Stimme. „Aber je mehr dabei umkommen, umso besser für uns. Die Polizei wird länger damit beschäftigt sein, wem der Anschlag gegolten hat.“
„Wann soll ich sie hochjagen?“
„In drei Minuten!“
„So früh?“
„Er hat dich am Tresen gesehen. Du weißt, dass er einen guten Riecher hat und wozu er imstande ist!“
„Aber sie haben das Essen erst vor ein paar Minuten bekommen! Sie werden jetzt nicht aufstehen und abhauen! Falls doch, werden Joe, Will und Tony dafür sorgen, dass sie nicht weit kommen!“
„Nein! Kein Risiko! Ich kenne Enbi! Drei Minuten, verstanden? In genau drei Minuten jagst du sie hoch!“
„Drei Minuten, okay!“
Ich hörte Schritte und dann, wie jemand die Tür auf und zu machte. Schnell begab ich mich zurück zur Eingangstür und blickte durch den Türspion. Ich sah den Mann vom Tresen, wie er gerade die Treppe nach unten ging und dabei einen kleinen Schalter mit ausziehbarer Antenne in der dunkelbraunen Jackentasche verschwinden ließ.
Verdammt! Meine Befürchtungen bestätigten sich! Die Typen meinten mich! Enbi war mein Deckname! Die beiden wussten, wer ich war. Sie hatten mich hier am Pier gefunden und heckten den Plan aus, meine Familie und mich zu töten. Aus dem letzten Teil des Gesprächs konnte ich schließen, dass sie eine Bombe unter unserem Tisch platzierten und mit drei Männern die Ausgänge sicherten. Ich hatte keine Zeit mir Gedanken darüber zu machen, wer diese Typen waren! Ich musste mir Gedanken machen, wie ich Sally und Dilan retten konnte.
Ich atmete kräftig durch und bereitete mich geistig und mental auf einen Einsatz vor. Das Vergnügen war vorbei! Ich sammelte mich, dann stellte ich die Zeitstopp-Funktion meiner Armbanduhr auf zwei Minuten und fünfzig Sekunden. Zwei Minuten und fünfzig Sekunden verblieben mir jetzt, meine Familie und mich aus dem Gefahrenbereich zu schaffen. Das Problem war, dass ich nicht einfach zurückspazieren konnte, um Sally in zwei kurzen Sätzen zu erklären, dass mein gottverdammtes Leben eine Lüge war und sie sich in Gefahr befanden. Die beiden würden mir kein Wort glauben, egal wie ich es ihnen zu erklären versuchte. Sie würden mir die Wahrheit nicht einmal ansatzweise abkaufen. Schon gar nicht in drei Minuten!
Zwei Minuten und dreißig Sekunden.
Langsam sollte mir etwas einfallen! Das Problem war, dass der Mann vom Tresen bereits weg war und die Zeit zu knapp, ihn erneut zu suchen. Ich musste unbedingt zum Tisch zurück, bevor die Kerle vor dem Hotel misstrauisch wurden. Würde ich nicht zurückkehren, wüssten sie, dass ich von ihrem Vorhaben erfahren hatte und würden meine Familie gleich töten. Kehrte ich zurück, wären meine Familie und ich tot. Es gab kein Entrinnen! Auch konnte ich Sally und Dilan nicht einfach schnappen und die Lokalität verlassen. Dadurch, dass sie alle Ausgänge sicherten und ich unbewaffnet war, blieb mir keine Wahl, als wieder zum Tisch zurückzukehren und wenn möglich ... Verdammt, mir musste etwas anderes einfallen!
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