„Entschuldige dich!“, forderte sie sie auf. „Sofort!“
„Ich habe nichts Unrechtes gesagt, Mum!“
„Dilan!“ Sally war jetzt richtig sauer. Ich konnte aus ihrem Blick lesen, dass unserem Engelchen bloß wenige Sekunden blieben, bevor sie ihre Drohung in die Tat umsetzte.
„Fisch ist ungesund! Ich habe das nicht böse gemeint!“
Sally verschränkte die Arme an der Hüfte und blickte sie giftig an. Dilan wusste, dass ihre Ausflüchte keinen Erfolg erzielen würden. Somit blieb ihr keine Wahl als nachzugeben. Beschämt wie ein kleines Kind rollte sie ihre Augen zu meiner Wenigkeit. „Sorry, Dad!“, murmelte sie leise, ohne dabei ihre Lippen zu bewegen - fast wie ein Bauchredner, aber ohne Puppe.
Ich atmete kräftig durch, würzte den Lachs mit Salz und Pfeffer nach und trank einen Schluck edlen Cabernet Sauvignon aus dem heimischen Napa Valley. „In Ordnung! Lasst uns jetzt essen!“
Plötzlich fielen die Blicke der beiden hinter mich. Ich drehte mich um und sah den Kellner. Sein Blick sagte mir, dass er bereits die ganze Zeit hier stand und den letzten Teil unserer Auseinandersetzung mitbekam. Er wartete bloß auf den richtigen Moment, um das Essen zu servieren. „Das Burrito Mojado!“, sagte er sodann und platzierte den Teller unter Sally's Nase. Nachdem er wieder gegangen war, hätte ich beinahe gelacht. Aber Sally verstand es perfekt, der peinlichen Situation keinen heiteren Aspekt abzugewinnen. Sie rückte näher zu Tisch, rollte das Besteck aus der Serviette und wünschte uns Guten Appetit.
Sally war eine hochanständige und impulsive Frau, die stets wusste, was sie wollte. Dieses Temperament verdankte sie großteils ihren mexikanischen Genen. Sie boten ihr eine riesige Bandbreite an Charaktereigenschaften, die sie nacheinander miteinander zu verknüpfen wusste. Zuerst diese ungeheure Ausstrahlung, diese Bodenständigkeit, der feurige Ausdruck in den Augen, die pechschwarzen Haare, die großen Brüste und die bis ins Detail perfektionierten Kurven. Man könnte meinen, Gott hatte die mexikanische Frau anders geschaffen, die Bauteile mit mehr Liebe zum Detail gewählt und die Gussmasse so verteilt, dass alles an den richtigen Stellen Platz fand. Mit ihr hatte ich auch nie einfachen Sex. Mit ihr hatte ich ausschließlich Sex bis zur Ekstase! Wo andere Frauen bereits abwinkten, legte sie erst richtig los. Nach den ersten Malen musste ich meinen Schwanz mit Eisbeutel kühlen, damit er nicht verglühte. Ich betrachtete es als himmlische Notwendigkeit, diese unglaubliche Leidenschaft an mich zu binden. Sie war die Quintessenz meiner Partnervorstellung! Deshalb heiratete ich sie auch. Diesen Schritt habe ich bis heute keinen einzigen Tag bereut. Ihr richtiger Name war übrigens Seda, nur nannte sie niemand so. Alle nannten sie Sally. Ihre Eltern, Jose und Erendira Valleres, stammten aus Tijuana, einer Grenzstadt nahe San Diego. In jungen Jahren wanderten sie zwecks besserer Verdienstmöglichkeiten nach Sorrento Valley aus, einem Vorort von San Diego. Jose fand einen Job als Lagerarbeiter, arbeitete sich bis zum stellvertretenden Abteilungsleiter hoch, während sich Erendira um Sally kümmerte. Ich lernte sie in den Neunzigern kennen, kurz vor dem ersten Golfkrieg. Gerade zu einer Zeit, als ich mich auf einer Selbstfindungsexpedition befand. Ich hatte das College hingeworfen und damit auch meinen Kindheitstraum, später einmal im Fernsehen Wetterfrosch zu spielen. Den Entschluss fasste ich aber nicht aus Faulheit oder irgendeiner anderen Form von Unlust. Ich war in einer depressiven Phase und kämpfte mit dem Verlust meiner Eltern. Ich werde wohl nie den Tag vergessen, als ich während des Unterrichts zum Direktor zitiert wurde, der mir schonend beizubringen versuchte, dass sie bei einem Einkaufsbummel in Westwood Village brutal überfallen und ermordet wurden. Und das wegen einem Paar Esprit-Schuhe, einer italienischen Import-Lederjacke und hundertfünfzig Dollar. Die Polizei sagte mir, dass es sich um ein paar zugedröhnte Jugendliche handelte, die schnelles Geld für ihren nächsten Trip suchten. Beschaffungskriminalität nannten sie das. Die Tat geschah mitten am Tag, während der Hochsaison. Ohne ein Wort zu sagen, stachen sie mit Taschenmessern auf Mum und Dad ein, schnappten sich die Utensilien, ließen die Opfer auf dem Bürgersteig verbluten und ergriffen die Flucht. Schon zwei Gassen weiter wurden sie von Streifenpolizisten aufgegriffen und widerstandslos verhaftet. Zurückgelassen haben sie ein paar schockierte Passanten und einen pubertierenden Teenager, der im Tränenmeer erstickte. Und das für hundertfünfzig Mäuse und ein paar mittelmäßige Klamotten.
Daraufhin fand ich Unterschlupf bei Onkel Bob und Tante Vicky. Mangels Lebensmut und einer vernünftigen Zukunftsperspektive warf ich das College hin. Es folgten drei Jahre nicht enden wollender Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid, bis mir mein Onkel den gutgemeinten Ratschlag gab, mich bei der Army zu melden. Nach reiflicher Überlegung tat ich es. Jedoch meldete ich mich nicht bei der Army, sondern bei den Navy-SEALs in Coronado. Nach der Hochzeit und den Flitterwochen zog ich mit meinen Waffenbrüdern in den Krieg. Sally wusste zwar immer, wo ich gerade war, aber nicht, was ich tat. Aus Sicherheitsgründen verschwieg ich ihr meine wahre Berufung und behauptete für den Nachschub der Army zuständig zu sein. Nach meiner Beförderung zur SEAL-Elite wurde ich nach Virginia beordert, woraufhin wir umziehen mussten. Dilan war bereits auf der Welt und Sally gefiel es dort überhaupt nicht. Sie vereinsamte, vermisste ihre Heimat und wollte wieder zurück nach Kalifornien. Also gab ich nach und verließ die Navy. Mit Hilfe meines damaligen Befehlshabers kam ich bei einem Spielzeugriesen in Santa Monica unter. Wir kauften uns ein bescheidenes Haus in der Kensington Road und Sally war wieder glücklich und zufrieden.
Ich war immer der Hauptverdiener der Familie gewesen und die meiste Zeit unterwegs. Offiziell arbeitete ich im Fernhandel der Spielzeugkette TRAVUS in der Mills Street. Mit sechzehntausend Mitarbeitern und unzähligen Zweigstellen in ganz Amerika setzte die Firma jährlich weltweit mehr als achtzig Milliarden Dollar um. Neben Spielwaren aller Art erzeugten wir noch Puppen in aufwendiger Handarbeit. Wenn man das Gewerbe nicht kannte, hatte man keine Ahnung, welchen Aufwand das darstellte. Man brauchte Drücker, Drechsler, Schnitzer, Gelenkmacher, Stopfer, Augenmacher, Puppenschuhmacher, Perückenmacher und Puppenfriseure. Dazu kamen die neuen elektrischen und feinmechanischen Errungenschaften, die beinahe gänzlich die früheren Bossierarbeiten ersetzten. Und nur die Wenigsten wussten, dass wir teilweise auch für die Rüstungsindustrie arbeiteten, insbesondere für die Bekleidung. Das rückte unsere Branche in ein ganz anderes Licht und war auch der eigentliche Grund, warum ich dort arbeitete. Aber davon hatte meine Familie auch keine Ahnung ...
Während ich gerade mein leckeres Gericht genoss, ließ ich den Blick unbewusst durch das Lokal schweifen. Dabei fiel mir ein Mann auf, der am Tresen stand und gerade den Blick von mir abwandte. Ich wusste nicht, woher ich das Gesicht kannte, aber mein Gedächtnis begann zu rattern. Die spitze Nase, der struppige Flokati-Haarschnitt, dazu der Blick und das Gehabe … all das formte sich zu einem Bild, das mir bekannt vorkam. Nur wusste ich nicht woher.
Der Mann stemmte sich gelassen vom Tresen weg und verschwand Richtung Toiletten. Ein drückendes Unwohlsein machte sich in meiner Bauchgegend breit und ließ meine Alarmglocken läuten. Ich hatte zwar ein gutes Gedächtnis, aber es war leider nicht so gut, dass ich mir jedes Gesicht merken konnte. Was aber immer funktionierte war mein Bauchgefühl. Es sagte mir augenblicklich, ob es sich um eine gute oder schlechte Bekanntschaft handelte. Und bei diesem Mann spürte ich deutlich, dass ich ihm hier niemals begegnen durfte. Dazu kam sein jetziges Verhalten, dass er mich beobachtete und dabei unauffällig wirken wollte. Er tat so, als blickte er nur zufällig zu mir. Nachdem ich ihn bemerkte, sah er schnell weg und verließ seelenruhig seinen Platz – so ruhig, dass er am liebsten gelaufen wäre. Hier war etwas faul! Und dem musste ich nachgehen. Ich legte das Besteck zur Seite und erhob mich vom Platz.
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