Der Falke saß auf dem Balken und begrüßte Sharif mit heftigen Piepen. Der Vogel begann einen Freudentanz, zwei Hüpfer nach rechts, zwei Hüpfer nach links.
„He, man könnte meinen, du bist am verhungern!“ Sharif öffnete den Beutel und zog die Schlange heraus. Wie ein Seil hing sie an seiner Hand herunter. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und schlug das Reptil über den Balken. Der Falke stürzte sich augenblicklich auf die frische Beute. Sharif beobachtete ihn beim Fressen, wenn er mit seinem gebogenen Schnabel in das Fleisch stieß und kleine Fetzen herausriss.
„Wann können wir Aras den Verband abnehmen?“, wollte Sharif von seinem Vater wissen, der plötzlich neben ihm stand.
„Ah, einen schönen Namen hast du für ihn ausgesucht! Aber schau genau hin, wie unruhig er die Flügel bewegt! Das ist ein gutes Zeichen, er will bald wieder fliegen. Hm, ich denke, wir können den Verband sehr bald lösen!“ Der Mann zupfte nachdenklich an seinem Bart.
„Morgen vielleicht?“
„Gut, probieren wir es einfach.“
„Aras! Hast du gehört? Morgen ist dein Tag!“ Sharif schaute abwechselnd den Falken, dann seinen Vater an. Er war sich sicher, dass der Falke es schaffen würde.
Sharif lag schon Stunden vor dem Morgengrauen wach. Aber er wollte sich kein zweites Mal aus der Hütte schleichen und drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Endlich - als erste rieb sich seine Mutter den Schlaf aus den Augen. Sie gähnte leise, setzte sich auf und richtete ihren Umhang zurecht. Dann verließ sie kaum hörbar die kleine Zeribar und schnappte eine Kalibasse, um Wasser zu holen. Sharif wartete so lange, bis der würzige Duft von Tee hereindrang. Jetzt sprang er auf und überlegte kurz, wie er seinen Vater von null auf hundert bringen könnte. Vielleicht sollte er Aras holen, der ihn am Ohr wach zupfen würde. Sharif seufzte. „Das ist vielleicht doch keine so gute Idee. Besser abwarten!“, entschied er, und ließ ihn zufrieden. Dann schlüpfte er nach draußen. Seine Mutter saß am dampfenden Kessel und schöpfte Tee in einen Becher. Sie blickte ihn freundlich an.
„Na Sharif! Schon munter?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprach sie weiter: „Ich weiß, das wird ein aufregender Tag für dich. Aber trink und iss erst in Ruhe. Vater wird dir mit dem Falken helfen!“ Sie reichte ihm in ihren kleinen Händen einen Becher Tee. Sharif setzte sich neben sie auf eine staubige Matte. Aber viel lieber, wäre er gleich davon gestürmt. Er verstand nicht, dass Erwachsene sich in allem immer so viel Zeit lassen.
„Ja, danke!“ Er umklammerte den verbeulten Kupferbecher und schlürfte mit seiner Mutter am heißen Tee. Der stark gesüßte Grüne Tee mit Pfefferminzblättern strömte wie eine warme Woge in seinen Bauch hinein und machte gleichzeitig Kopf und Denken leicht. Mutter hatte wie so oft Recht. Nach dem Tee fühlt man sich viel besser.
„Zuerst testen wir, wie der Falke ohne Verband zurecht kommt!“, schlug Sharifs Vater vor, als die beiden zu den Stallungen gingen.
„Und denkt dran, Großmutter kommt heute!“, rief die Mutter hinterher. „Sie kann bestimmt bei der Entschlüsselung des Symbols helfen.“
„Na, da bin ich sehr gespannt, was ihr dazu einfällt!“ Ihr Mann drehte sich um und winkte kurz zurück. Im Moment blieb ihm das Symbol ziemlich gleichgültig.
„Also pass auf! Du lässt den Falken auf deiner Hand sitzen. Genauer gesagt, auf deinem gestreckten Zeigefinger kann er sich festhalten. Als Schutz vor seinen scharfen Krallen ziehst du diesen dicken Lederhandschuh über.“ Der weißbärtige Mann reichte Sharif einen viel zu großen Handschuh, der an ihm wie ein Beutel herunterhing. Sharif tat, wie befohlen und trat so nah wie möglich an den Falken heran. Dann hielt er ihm auffordernd die Hand entgegen.
„Komm Aras, hüpfe hier drauf! Ich halte dich schon!“ Aras guckte seinen neuen Sitzplatz erst mal mit dem rechten, dann mit dem linken Auge an. „Na los! Was ist denn?“ Endlich hüpfte der Falke mit einem Satz auf Sharifs Handschuh. Die Krallen drangen fest in das brüchige Leder ein. Sharif gefiel diese Berührung.
„Sehr gut! Jetzt drücke mit dem Daumen sachte gegen seine Krallen. Somit weiß er, dass er dort zu sitzen hat. Erst wenn du den Daumen öffnest und die Hand in die Luft wirfst, versteht er das Zeichen zum Fliegen.“ Vorsichtig hielt der Junge den wertvollen Vogel fest, der etwa die Größe einer Krähe besaß, und betrachtete sein blassgraues Gefieder. Die dunklen nach hinten verlaufenden Augenstreifen schenkten dem Gesichtsausdruck etwas Kriegerisches und eine gewisse Strenge. Ausschließlich Scheitel und Nacken waren rostrot gefiedert. Sharif fand den Wüstenfalken wunderschön. Er staunte und genoss die Nähe des rätselhaften Greifvogels. Dann fiel sein Blick auf den schmalen Ring, der im schummrigen Licht schimmerte.
„Heute werden wir mehr über dich erfahren!“ Aras bewegte seinen Kopf kurz und ruckartig, als würde er alles verstehen. Der kleine Falke strahlte Ruhe und Klugheit aus. Jeder, der ihn sah, war beeindruckt.
„Los, gehen wir an den Rand der Oase, wo er die Freiheit besser erkennen kann. Sein Instinkt sagt ihm, in welche Richtung er fliegen soll.“ Der Vater schritt gedanklich zur nächsten Tat, während Sharif zusammenzuckte! Das war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass Aras auf nimmer Wiedersehen davonfliegen könnte. Und doch, es war seine Pflicht ihn loszulassen. Die beiden gingen auf einem abgelegen Weg und hofften, dass ihnen niemand begegnen würde. Das hätte sonst wieder nur Gerede ausgelöst. Aber sie hatten Glück. Keiner bemerkte ihr Vorhaben.
Je mehr sie sich der offenen Wüste näherten, desto heftiger wühlte der Wind die Palmenwedel auf. Die großen Blätter rieben aneinander, winkten sich zu, oder raschelten im Luftstrom.
Der alte Mann führte Sharif hinaus auf eine freie Ebene. Nach ein paar Schritten machten sie halt. Der Wind pfiff gedämpft sein Lied. Während Sharif andächtig den Falken hielt, löste sein Vater den Verband von dessen Flügel.
„Na siehst du! Der Stein hatte nichts gebrochen. Es sah viel schlimmer aus, und nun ist es gut verheilt. Zufrieden?“ Skeptisch beäugte Sharif die Stelle, an dem der Stein eingeschlagen war und es schmerzte ihn. Ein tiefer Schnitt hatte einige Federn gelöst und einen Muskel verletzt. Die Wunde war sauber verheilt. Jetzt galt es, den Muskel wieder zu stärken.
„Stell dich mit ihm gegen den Wind!“, forderte sein Vater ihn auf und Sharif drehte sich um. „Ja, so ist`s gut, und halte ihn fest.“ Unruhe stieg im Falken auf. Er übte sich bereits im Strecken seiner Flügel. Bei einer Spannweite von etwa 80 cm gewann er dabei schnell an Auftrieb.
„He, langsam!“ Sharif hatte Mühe den Vogel festzuhalten. Er musste ihn nun weit von sich strecken, damit er von den Flügeln nicht geohrfeigt wurde. Aras zog langsam seine Flügel wieder an. Er piepte aufgeregt, als sei es ein Kampfesschrei. Sharif freute sich über seine Lebenskraft.
„Du kannst es, ich weiß es! Du willst und kannst fliegen! Der Wind hilft dir!“ Sharif meinte, der Zeitpunkt sei nun gekommen und schaute seinen Vater fragend an.
„Gut, mein Junge! Dann lass es uns probieren. Du musst dich nun verabschieden!“ Sharif seufzte.
„Vielen Dank Aras! Du hast mein Leben gerettet und auch das von Zulu! Das werden wir dir nie vergessen. Du kannst jetzt nach Hause fliegen, oder auch hier bleiben, wenn du willst. Na ja, ich hoffe, du kommst mich bald wieder besuchen!“ Sein Vater legte die Hand auf seine Schulter, was so viel bedeutete, wie, mach endlich! „Also gut!“ Sharif konzentrierte sich auf das, was er gleich tun musste. Sein Vater hatte es ihm einige Male mit einem Strohknäuel vorgemacht, wie man einen Falken zum Fliegen bringt.
Sharif holte mit seiner Hand langsam aus und warf den gestreckten Arm hoch in die Luft. Im letzten Moment löste er dabei seinen Daumen. Den Falken warf es einige Meter nach oben. In diesem kritischen Augenblick musste sich der Vogel selbst helfen. Vater und Sohn standen gespannt da und hofften auf ein kleines Wunder. Aras gelang es mit ein paar wenigen Schlägen noch höher zu steigen. Dann stellte er seine Flügel geschickt in den Wind und ließ sich tragen, als hätte er es nie verlernt. Jetzt ging alles sehr schnell. Immer höher zog es ihn in den Himmel und weit in die Wüste hinaus, bis sein Körper vom Licht geschluckt wurde.
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